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Nobelpreisträger Abdularazak Gurnah liest heute in Wien

Seit 1986 Wole Soyinka als erster afrikanischer Autor den Literaturnobelpreis erhalten hat, sind fünf weitere in Afrika Gebürtige ausgezeichnet worden. "Sechs in kaum 40 Jahren - das ist doch kein schlechter Schnitt", schmunzelt Abdularazak Gurnah. Der 1948 in Sansibar geborene Autor und Literaturwissenschafter ist seit 2021 Nobelpreisträger. Heute, Freitag, stellt er im Wiener Studio Molière seinen jüngst ins Deutsche übersetzten Roman "Das versteinerte Herz" vor.

Der Anruf aus Stockholm habe sein Leben nicht von Grund auf verändert, aber seiner Literatur eine Aufmerksamkeit verschafft, die sie sonst wohl nicht bekommen hätte, sagt er im Gespräch mit der APA. "Menschen, die sonst vermutlich meine Bücher nicht gelesen hätten, sind auf mein Werk aufmerksam geworden. Und natürlich hat der Preis viele Übersetzungen zur Folge gehabt." Das gilt auch fürs Deutsche, wo zum Zeitpunkt der Preis-Zuerkennung kein einziges der früher übersetzten Werke Gurnahs lieferbar gewesen war. Der Penguin Verlag hatte sich daraufhin die Rechte an den alten Übertragungen und die Übersetzungsrechte für die übrigen Bücher gesichert. Noch 2021 wurde mit der Neuauflage des 1994 erschienenen ersten Romans "Das verlorene Paradies" gestartet. "Das versteinerte Herz", unter dem Titel "Gravel Heart" 2017 im englischen Original erschienen, ist nun der fünfte Roman Gurnahs, der auf Deutsch erhältlich ist.

Gurnah erzählt darin von zwei Männern aus Sansibar. Da ist Salim, der lange nicht versteht, warum seine Eltern miteinander gebrochen haben, und der von seinem prahlerischen Onkel für ein Studium nach London geholt wird, wo er aber nicht glücklich wird und mit dem Onkel bricht. Die zweite Hauptfigur ist Salims Vater, der sich von der Familie zurückgezogen hat und der erst als spät, nach dem Tod seiner Frau, dem aus London zurückgekehrten Sohn das bittere Familiengeheimnis enthüllt, das ihn jahrelang in Trauer und Scham gestürzt hat.

Natürlich teilten die beiden männlichen Protagonisten des Romans manche Erfahrung mit ihm selbst, erklärt Gurnah. So wie etwa Salim das Begräbnis seiner Mutter versäume, weil er erst nach Tagen benachrichtigt werden könne, sei es ihm selbst beim Tod seiner eigenen Mutter ergangen. Eine der ersten Ideen für den Roman sei aber ein anderer Erzählstrang gewesen: sexuelles Verlangen, das einen Mächtigen dazu bringe, seine Macht brutal auszuspielen, und das Leid, das er dem Machtlosen damit zufüge. "Und mitten drinnen bin ich draufgekommen: Das klingt doch ein wenig nach Shakespeares 'Maß für Maß'", lächelt der Dichter, der aus der Stückzeile "Unfähig zu leben oder zu sterben: O versteinertes Herz" den Titel entnommen hat. "Als Shakespeare auftauchte, habe ich natürlich die Tür für ihn aufgemacht, und geschaut, was passiert ... ."

Mit Shakespeare sei er schon in der Schule in Sansibar in Berührung gekommen, vermutlich zunächst mit "Der Kaufmann von Venedig" ("Der Plot mit dem Pfund Fleisch, das als Pfand herausgeschnitten werden soll, ist natürlich beeindruckend gruselig für ein Kind"), sagt der langjährige Professor für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent, der als 18-Jähriger die Insel verlassen musste und seit 1968 in England lebt. Er habe schon als Kind alles gelesen, was ihm in die Hände gefallen sei, auch wenn ihm damals eine Einordnung des Gelesenen kaum möglich gewesen sei. "Es war die pure Freude am Lesen, die mich angetrieben hat. Das ist bis heute geblieben. Und weil ich diese Freude als Leser so gut kenne, schreibe ich nicht nur, weil mich Schreiben zutiefst befriedigt, wenn etwas dabei funktioniert, sondern weil ich glücklich bin, wenn ich meinen Lesern Freude bereiten kann."

Angesichts dieser Aussagen verwundert es nicht, dass Abdularazak Gurnah strikt zurückweist, dass Literatur aus oder über Afrika irgendeine andere Verantwortung habe als gute, spannende Geschichten zu erzählen: Natürlich weite Literatur den Blick und mache mit Dingen und Lebensumständen bekannt, die den Lesern vielleicht nicht bewusst waren - "aber ich denke nicht, dass sie für irgendetwas in die Pflicht genommen werden sollte. Literatur hat keine Aufgabe zu erfüllen. Der Antrieb meines Schreibens kommt nur aus mir selbst."

Daher gehen die letzten zwei Fragen explizit an den Staats- und Weltbürger und nicht an den Dichter Abdularazak Gurnah. Ja, die Debatte um die Verbrechen der Kolonialisierung habe sich in die richtige Richtung entwickelt, das Wissen darum sei gewachsen und das Bewusstsein, dass etliche der in europäischen oder US-amerikanischen Museen lagernden Kunstwerke aus Afrika schlicht Diebs- und Raubgut seien, gestiegen. Und nein, er könne beim besten Willen nicht vorhersehen, wie sich die afrikanische Migration weiterentwickeln werde, wenn zu ökonomischen und politischen auch klimatologische Fluchtgründe hinzukämen. "Ich bin Dichter und kein Prophet. Ich weiß darüber nicht mehr als Sie. Und ich kann nur hoffen, dass nicht alles von dem eintreffen wird, was heute prognostiziert wird."

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Abdulrazak Gurnah: "Das versteinerte Herz", Übersetzung: Eva Bonné, Penguin Verlag, 368 Seiten, 26,80 Euro; Lesung heute, Freitag, 10.5., 19 Uhr, im Studio Molière, Wien 9, Liechtensteinstraße 37A, Gespräch auf Deutsch und Englisch: Abdulrazak Gurnah und Katja Gasser, Lesung auf Deutsch: Robert Stadlober)

ribbon Zusammenfassung
  • Abdularazak Gurnah, 1948 in Sansibar geboren, stellt heute seinen Roman 'Das versteinerte Herz' in Wien vor.
  • Seit seinem Nobelpreis 2021 hat Gurnahs Literatur deutlich mehr Aufmerksamkeit und Übersetzungen erfahren.
  • 'Das versteinerte Herz', ursprünglich 2017 veröffentlicht, ist Gurnahs fünfter auf Deutsch verfügbarer Roman.
  • In seinem Werk verarbeitet der Autor Themen wie Machtmissbrauch und familiäre Geheimnisse, inspiriert von persönlichen Erfahrungen und literarischen Einflüssen wie Shakespeare.
  • Die Lesung findet um 19 Uhr im Studio Molière statt, mit einer Diskussion auf Deutsch und Englisch und einer Lesung von Robert Stadlober.