Neuer Roman von Bestseller-Autor Lehane geht unter die Haut
Werke des US-Schriftstellers wurden bereits mehrmals erfolgreich verfilmt, etwa "Mystic River" und "Shutter Island". "Small Mercies", so der Originaltitel seines nun in deutscher Übersetzung als "Sekunden der Gnade" erschienenen jüngsten Wurfes, soll als Serie für Apple+ adaptiert werden. Man darf nur hoffen, dass Ecken und Kanten der literarischen Vorlage erhalten blieben, denn Lehane verschont weder seine Charaktere noch seine Leser. Das Buch mache "nachdenklich und wütend", lobt Stephen King, es sei "unmöglich, es aus der Hand zu legen" - wie wahr.
Mit Mary Pat Fennessy hat Lehane eine faszinierende Figur geschaffen: Alleinerzieherin, vom Schicksal nicht begünstigt, voll Hass, sich ihrer Vorurteile und des in ihr keimenden Rassismus wohl bewusst, mitfühlend, aber auch kalt und gewalttätig, Racheengel in einer brutalen Männerwelt. In einer Nacht stirbt ein schwarzer Jugendlicher und Mary Pats Tochter verschwindet. Während die Stadt sich auf Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Aufhebung der Rassentrennung vorbereitet, macht sich die Mutter auf die Suche. Die "Sekunden der Gnade" sind schnell verstrichen.
Lehane wendet sich in einem Vorwort direkt an die Leserinnen und Leser: Er habe 1974 eine Protestaktionen gegen einen Schülertransport selbst miterlebt. "Der Roman handelt von der Zeit. Und vielleicht auch von der Zeit, in der wir leben", hält er fest. Die Themen des Romans, die das Handeln der Protagonisten bestimmen, sind leider immer noch aktuell. Lehane belehrt sein Publikum jedoch nicht mit plakativem Zeigefinger, er trennt auch nicht in "gut" und "böse", sondern gestaltet seine Figuren ambivalent - niemand ist frei von Fehlern und Schattenseiten.
Mary Pats Feldzug gegen jene, die ihr den letzten Grund zum Leben genommen haben, ist pures Hardboiled-Lesevergnügen. Zugleich erschüttert das Buch, wirft zentrale Fragen über das Handeln der Menschen und ihre Prägung auf. "Ob es nicht Gottes unverzeihliches Hauptverbrechen war, uns zu erschaffen", rätselt an einer Stelle ein Ermittler angesichts der Gehässigkeiten in dieser Welt. "Ich mag keine Romane, die auf Nummer sicher gehen", betont Lehane in einem Interview für seinen Verlag. "Sekunden der Gnade" tut das mit keinem Wort; ein must-read für alle, die stilistisch makellose, kompromisslose Unterhaltung mit Tiefe und Nachhall schätzen.
( S E R V I C E - Dennis Lehane: "Sekunden der Gnade", aus dem amerikanischen Englisch von Malte Krutzsch, Diogenes Verlag, 400 Seiten, 27,50 Euro)
Zusammenfassung
- Es brodelt im heißen Sommer von 1974 in Boston: Zur Aufhebung der Rassentrennung sollen Schüler aus überwiegend weißen Gegenden in Schulen in überwiegend schwarzen Vierteln wechseln - und umgekehrt.
- Bestsellerautor und Zeitzeuge Dennis Lehane bettet in dieses Setting einen Roman, der nicht nur wegen der Spannung unter die Haut geht.
- Die Themen des Romans, die das Handeln der Protagonisten bestimmen, sind leider immer noch aktuell.