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Michelangelos Körperideal und seine Folgen in der Albertina

Er gehört zu den Göttern der europäischen Kunstgeschichte: Mit "Michelangelo und die Folgen" setzt die Albertina einmal mehr auf einen Blockbuster und rückt einen Kanon des männlichen Akts in den Mittelpunkt, den der Meister der Renaissance nachhaltig bestimmt hat. Der zeitliche Bogen überspannt mehr als vier Jahrhunderte und reicht bis in das beginnende 20. Jahrhundert, wenn die Körperdarstellungen Klimts und Schieles das Ideal Michelangelos endgültig zu Grabe tragen.

Es ist die erste Schau nach der Retrospektive 2011, mit der das Ausstellungshaus den 1475 nahe Florenz geborenen Michelangelo Buonarroti vor allem mit Werken aus den eigenen Beständen hochleben lässt. Museumsleiter Klaus Albrecht Schröder schwärmte am Donnerstag bei der Presseführung von "80 der schönsten Männerakte" überhaupt und sprach von einem "unübertroffenen Maßstab", den der Italiener für viele nachfolgende Generationen geschaffen habe. Einer der zentralen Ausgangspunkte der Präsentation sind etwa Arbeiten, die rund um "Die Schlacht von Cascina" entstanden sind. Dieser Auftrag für ein riesiges Wandgemälde für den Palazzo Vecchio in Florenz hat es nur bis zum Kartonstadium, dessen Original im Übrigen verschwunden ist, geschafft und zeigt die vom Angriff überraschten Florentiner, die im Arno badend schnell zu den Waffen greifen müssen.

Warum waren diese Aktdarstellungen mit ihren komplizierten Bewegungsmotiven so maßgeblich? "Michelangelo hat einen Ausgleich geschaffen zwischen dem antikischen Ideal und dem unmittelbaren Studium der Natur", erklärte Schröder. Es gehe aber nicht nur um anatomische Richtigkeit und das römisch-griechische Ideal, sondern um ein Menschenbild, um die Entdeckung des Individuums. "Die zum Zerreißen gespannten Körper zeigen auch eine innere Zerrissenheit", so der Generaldirektor. Gerade was die Wiederentdeckung der Antike anbelangt, "war Michelangelo live dabei", erinnerte Eva Michel, eine der Kuratorinnen, an die Augenzeugenschaft des Künstlers, als 1506 der "Laokoon" vor den Toren Roms ausgegraben wurde.

Der großteils chronologisch aufgebaute Parcours dokumentiert, wie schon Zeitgenossen Michelangelos, darunter Raffael, Baccio Bandinelli oder Domenico Beccafumi, die künstlerische Formensprache des Meisters aufgriffen. Im Lauf der Zeit arbeiteten sich ganze Künstlergenerationen an ihrem Vorbild ab - darunter Vertreter des Klassizismus wie Anton Raphael Mengs oder Pompeo Girolamo Batoni, die ihre Körperdarstellungen durch übersteigerte Modellierungen der Muskulatur und komplizierte Posen überzeichneten, oder Peter Paul Rubens, in dessen Besitz sich sogar einige der heute in der Albertina befindlichen Zeichnungen Michelangelos einst befanden, wie Schröder betonte. Es gab aber auch dezidierte Antipoden, im 17. Jahrhundert etwa Rembrandt, der an die Stelle muskulöser Männerkörper zarte Knaben setzte und auch vor der Schwäche und Hässlichkeit des menschlichen Fleisches nicht zurückschreckte.

Während Michelangelo in seinen Frauendarstellungen lediglich den maskulinen Körper mit weiblichen Attributen versieht, zeigt Rembrandt etwa seine "Nackte Frau auf einem Erdhügel sitzend" (1631) mit Schwabbelbauch und vom Wasser geschwollenen Beinen, an denen noch die Abdrücke der Strumpfbänder sichtbar sind. Grundsätzlich gilt freilich, dass der Blick auf die nackte Frau zur damaligen Zeit ein rein männlicher war, mit dem sich ein eigener Abschnitt der Ausstellung beschäftigt. Dabei wird klar: Das weibliche Geschlecht wurde vorrangig mit Laster, Sittenlosigkeit und Sünde identifiziert. Nacktheit heißt hier Hexe oder verführerische Venus. Als Gegenbild tritt die tugendhaft verhüllte Frau in Erscheinung.

Dass es neben Michelangelo auch andere Maßstäbe für die Aktdarstellung gab, reißt die Schau ebenfalls an. Albrecht Dürer (1471-1528), ein Zeitgenosse, etwa stellte akribische Messungen und Proportionsstudien in den Mittelpunkt seines Regelwerks. Die antike Skulptur des Herkules Farnese - eine Bronze-Abbild aus der Sammlung Liechtenstein ist in der Albertina zu sehen - schuf wiederum einen eigenen, an extrem übertriebenen Muskelpartien orientierten Typus des idealen Körpers. Unzählige Künstler studierten und kopierten über Jahrhunderte hinweg die Vorlage.

Am Ende der Schau stehen Gustav Klimt und Egon Schiele. Gerade die verstümmelten, ausgemergelten und sexualisierten Darstellungen von Letzterem führen deutlich vor Augen, dass sich in Zeiten von Weltkrieg und Massenvernichtung das Bild des heroischen, kraftstrotzenden Körpers endgültig überholt hat. Oder wie Schröder formulierte: "Ein Soldat, der an der Somme niedergemäht wird, ist kein Held. Er wird einfach niedergemäht."

(S E R V I C E - "Michelangelo und die Folgen" in der Albertina, ab Freitag und bis 14. Jänner 2024, Ausstellungskatalog in Deutsch und Englisch: 36,90 Euro, www.albertina.at)

ribbon Zusammenfassung
  • "Michelangelo hat einen Ausgleich geschaffen zwischen dem antikischen Ideal und dem unmittelbaren Studium der Natur", erklärte Schröder.