Märchen und Albtraum: "Doktor Garin" von Vladimir Sorokin
Wer das Werk des 68-jährigen Russen, der in seiner Heimat in der Vergangenheit immer wieder Angriffen ausgesetzt war und heute in Berlin lebt, schon länger verfolgt, wird Doktor Garin schon 2012 in Sorokins Roman "Der Schneesturm" begegnet sein. Damals versuchte er sich mit dem rettenden Impfstoff in ein Dorf durchzuschlagen, in dem eine Seuche die Bewohner zu Zombies machte. Manche Details von damals, von "lebendgebärenden" Stoffen bis zu Zwergen, Riesen und biomorphologischen Neuschöpfungen, begegnen einem nun wieder.
Garin, dem seine abgefrorenen Füße durch Titanprothesen ersetzt wurden, leitet nun eine Spezialklinik im Altaigebirge. Ganz speziell sind vor allem die V.I.P.-Patienten. Sie heißen Donald, Wladimir, Emmanuel und Angela, Silvio, Shinzo, Boris und Justin. Es sind nicht exakt jene einstigen Weltpolitiker, an die man sofort denken muss, sondern genetisch verfremdete Nachzüchtungen, die als "political beings" nur aus riesigen Hinterteilen mit Extremitäten bestehen, allerdings alle Allüren ihrer Vorbilder aufweisen und sich Vorwürfe gefallen lassen müssen, es mit der Welt so richtig versch... zu haben.
Sorokins literarische Fantasie ist mitunter orgiastisch und obszön - doch nicht obszöner als die Wirklichkeit, würde er wohl entgegenhalten. Wenn Wladimir auf alles und jedes nur mit seinem Stehsatz "Ich war's nicht" antwortet, Silvio einen Widersacher in einer Ehrensache zum Duell fordert und ersticht, Donald vor allem mit rüdem Umgangston und lautem Furzen auffällt, dann sind das Erfindungen, die eindeutig von den Vorbildern inspiriert sind.
Das etwas über 100 Seiten lange erste Kapitel ist der originellste und überzeugendste Teil des fast 600-seitigen Romans. Der seltsame Sanatoriumsalltag im Altaigebirge, bei dem eine Art Elektroschocktherapie eine wichtige Rolle spielt, wird durch ein Grenzscharmützel beendet, das mit Atombomben ausgetragen wird. Garin flieht mit Ärzten, Patienten und seiner geliebten Assistentin Mascha auf riesigen Biorobotern, die wegen der Ähnlichkeit ihres kantigen Gesichts mit dem bekannten russischen Dichter "Majakowskis" genannt werden.
Es beginnt ein Roadtrip ohne befestigte Straßen, durch eine Landschaft, in der mit Raketenwerfern bestückte Banditen noch das Harmloseste sind, das einem begegnen kann. Nicht zufällig erinnern die Verhältnisse in Sorokins Zukunft an die Verheerungen des Dreißigjährigen Kriegs, in denen Hungersnot und das Gesetz des Stärkeren regieren und Willkür und Anarchie herrschen.
Wer Glück hat, wird von einem lokalen Herrscher wie an einem Fürstenhof bewirtet und beherbergt, wer Pech hat, landet als Sklave in einem Arbeitslager der "Zottelorks", übel riechenden Mischwesen, die einst einem Frankenstein'schen Labor entsprangen und sich in Sümpfen rasend schnell vermehren. Doktor Garin kann sich zumindest glücklich schätzen, mit dem Leben davonzukommen. Und ganz am Ende wieder auf seine Mascha zu treffen. Auch wenn sich diese ziemlich verändert hat...
(S E R V I C E - Vladimir Sorokin: "Doktor Garin", übersetzt von Dorothea Trottenberg, Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten, 26,80 Euro, Lesungen am 28.2., 19.30 Uhr, im Literaturhaus Salzburg, und am 29.2., 19 Uhr, in der Hauptbücherei Wien)
Zusammenfassung
- 'Doktor Garin', der neue Roman von Vladimir Sorokin, entführt auf fast 600 Seiten in eine dystopische Zukunft, in der ein Roadtrip durch eine vom Krieg verwüstete Welt führt.
- Der Protagonist, ein Arzt mit Titanprothesen, flieht nach einem Angriff auf seine Klinik mit genetisch veränderten Nachzüchtungen bekannter Weltpolitiker auf Biorobotern.
- Sorokin verbindet in seinem Werk mittelalterliche Brutalität mit futuristischen Elementen und schafft eine satirische Reflexion über Macht und Zerstörung.