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Kritik an Konvention und "Lieblingstext" beim Bachmann-Preis

Bei strahlendem Sonnenschein startete die 47. Ausgabe der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt mit höchst unterschiedlichen Texten und Jury-Stimmungen. Dominierend war am Vormittag die Frage der Trennung zwischen Werk und Autor sowie die Definition von Konventionalität. Der Nachmittag brachte einhelliges Jury-Lob für Valeria Gordeev.

Den Anfang machte der 1977 in Frankreich als Frau geborene und seit 13 Jahren als Mann lebende Autor und Spoken-Word-Künstler Jayrôme C. Robinet. Sein für den Bachmann-Preis eingereichter Roman-Auszug "Sonne in Scherben" handelt von einem Trans-Mann, dessen tragischer Familiengeschichte und einer aufsehenerregenden Schwangerschaft. Der seit Jahrzehnten in Berlin lebende Autor sorgte mit seinem von der heuer neu dazugestoßenen Jurorin Mithu Sanyal eingeladenen Text für erste heiße Jury-Diskussionen über die Frage der Trennung zwischen Text und Autor.

Im Stehen und oft auswendig vorgetragene Sätze wie "Ich habe einen Vagina mit Variationshintergrund" sorgten beim Publikum für lang anhaltenden Applaus. Tränen gab es hingegen bei Jurorin Sanyal, die während des Vortrags noch stärker ergriffen war als beim Lesen, der Text sei ihr "direkt unter die Haut" gegangen. Als "überraschend konventionell" empfand Mara Delius den Text, der jedoch "unglaublich durch seine textverändernde, dynamische Performance gewonnen" habe. Jury-Präsidentin Insa Wilke gefiel vor allem das beständige Wiederaufnehmen von Motiven. Von "wunderbaren szenischen Miniaturen, die eine Kindheit sofort plastisch machen", sprach Neo-Juror Thomas Sträßl, der jedoch "didaktische Momente" kritisierte. Brigitte Schwens-Harrant wiederum vermisste "über weite Stellen das Potenzial der Sprache". Philipp Tingler lobte den Text dort, "wo er selbstironische Distanz entwickelt". Insgesamt sei er "in seiner Gedrängtheit auch ein bisschen überlastet". Klaus Kastberger würdigte das "Gesamtpackage aus Video, Text und Vortrag", kritisierte aber ebenfalls die erzählerische Konventionalität. Der Text verfüge jedenfalls über den "vielleicht besten Satz dieses ganzen Wettbewerbs": "Himalaya, die Jury, pure Lawine!"

Ebenfalls Einblick in eine Familiengeschichte sowie die Gefühlswelt eines Ich-Erzählers gab im Anschluss der deutsche Autor Andreas Stichmann (40), der bereits 2012 beim Bachmann-Preis angetreten war, mit "Verwechslungen". In dem von Mara Delius eingeladenen Text hält sich ein älterer Mann aufgrund einer Nesselsucht in einer Klinik auf, wo er einen Pfleger kennenlernt, den er zunächst mit einem alten Bekannten aus Studientagen verwechselt und ihm schließlich aus seinem Leben erzählt. Damit brachte er die Jury zu einer intensiven Diskussion über die Definition von Konventionalität, die keine Einigung brachte.

Während Sträßle von einer "extrem kontrollierten Form des Erzählens" sprach, kritisierte Sanyal, dass sie bis zum Ende des Textes nicht genug über die Hauptfigur erfahren habe. Auch Wilke verwies auf die "sehr zurückhaltenden literarischen Mittel", mit denen der Text operiere und fühlte sich im Vortrag an Loriot oder Homer Simpson erinnert. "Homer Simpson ist bei weitem lustiger als dieser Text", schoss Kastberger zurück, der den Text zwar "relativ gut gemacht" fand, er sei ihm aber "zu risikolos, zu glatt". Auch Schwens-Harrant machte der Text zu wenige Abgründe auf, während Tingler den hermetischen Klinik-Kontext gelungen fand und die "sehr stringente" Komposition lobte. Delius freute sich über den "auf eine subversive Art extrem unkonventionellen Text", Stichmann verfüge "absolut über seine literarischen Mittel", die er wohl dosiere.

Mit der 1986 in Bonn geborenen Autorin Valeria Gordeev las schließlich die erste Frau des Tages: In dem von Insa Wilke eingeladenen Text mit dem Titel "Er putzt" erzählt sie detailverliebt von einem Mann, der akribisch die Küche putzt, während seine Schwester eine Folge von "Emergency Room" anschaut, der ebenfalls ausführliche Beschreibungen des medizinischen Geschehens gewidmet sind.

In der Jury-Diskussion entstand rasch einhelliges Lob, Kastberger sprach gar davon, dass es sich "ohne Zweifel um einen der Lieblingstexte" des bisherigen Bewerbs handle, es sei ein "hoch interessanter Text, der in keiner Sekunde langweilig ist". Sträßle sprach von einem "kolossal guten Text auf allen Ebenen", in dem ein neurotischer Mensch vorgeführt werde, was mit einer "Überpräzision im positiven Sinne" sprachlich abgebildet werde. Schwens-Harrant lobte das konsequente Durchhalten der Perspektive und des Duktus. "Hier wird eine Welt entworfen. Das ist, was Literatur auszeichnet", freute sich auch Philipp Tingler. Wilke unterstrich die "extreme Engführung, mit der ein weiter Raum geschaffen wird".

Passend zum Wetter ging der erste Lesetag schließlich mit "Eve Sommer" von Anna Gien zu Ende, die ebenfalls von Mara Delius eingeladen worden war. Die 1991 in München geborene Autorin zeichnet in losen "Einträgen", die aus den Sommern 2019 bis 2021 stammen, nicht nur das langsame Zerfallen einer Beziehung nach, sondern schildert auch einen Traum, in dem Thomas Bernhard die Hauptrolle spielt. Ganz anders als bei der vorherigen Diskussion zeigte sich die Jury - bis auf Delius - geschlossen verwirrt bis ablehnend. Während sich Wilke "in ein Durcheinander hineingeworfen" fühlte und die These wagte, "ob das ein Text ist, mit dem wir über Künstliche Intelligenz diskutieren müssen", hatte Sträßle Mühe, sich zu konzentrieren: "Hier ist sehr viel Literatur-Wollen im Spiel", meinte er.

Sanyal erinnerte sich daran, dass sie früher selbst solche Texte geschrieben und sich dafür gehasst habe. "Alles was ich mir abtrainiert habe, macht dieser Text", so die Jurorin. Auch Tingler ("Wen interessiert das?") und Kastberger ("Der Text wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet") zeigten sich wenig angetan. So fehlte Kastberger die "literarische Formung dieser Eindrücke", der Text schaffe es nicht, sich selbst zu legitimieren. Ganz anders sah das Delius, die das "Außer-sich-Sein, das blinde Suchen" der Ich-Erzählerin "extrem beeindruckend" fand. Und so endete der erste Lesetag mit dem ersten wirklichen Verriss eines Textes. Am morgigen Freitag geht das Wettlesen mit Sophie Klieeisen, Martin Piekar, Jacinta Nandi und schließlich der Wienerin Anna Felnhofer weiter.

(S E R V I C E - https://bachmannpreis.orf.at/)

ribbon Zusammenfassung
  • Dominierend war am Vormittag die Frage der Trennung zwischen Werk und Autor sowie die Definition von Konventionalität.
  • Philipp Tingler lobte den Text dort, "wo er selbstironische Distanz entwickelt".
  • Ebenfalls Einblick in eine Familiengeschichte sowie die Gefühlswelt eines Ich-Erzählers gab im Anschluss der deutsche Autor Andreas Stichmann (40), der bereits 2012 beim Bachmann-Preis angetreten war, mit "Verwechslungen".