"Ich fühle mich eigentlich zeitlos" - Gerhard Rühm wird 95
Die originale Kleinschreibung in Rühms Antworten wird in Folge beibehalten.
APA: Herr Rühm, das Wichtigste zuerst: Wie geht es Ihnen?
Gerhard Rühm: für mein alter geht es mir erfreulich gut. dafür sorgen auch einige mir wichtige buchpublikationen, deren vorbereitung mir freude macht. ferner eine schon für den april festgelegte umfassende ausstellung bildnerischer arbeiten in der neuen galerie graz. dazu kommt eine reihe von vortragsterminen. diese aufzählung liesse sich noch fortsetzen, vor allem im hinblick auf ein mir seit längerem vorschwebendes grossprojekt, das auf der charta der menschenrechte beruht, und nun chancen einer realisation gewinnt.
APA: Sie sind dafür bekannt, dass Sie sich jeden Vormittag ans Klavier setzen. Machen Sie das nach wie vor?
Rühm: dieser schönen gewohnheit muss ich mich seit 2024 enthalten, als ich meinen hauptwohnsitz nach dem tod meiner frau von köln wieder nach wien verlegt habe, da mein bösendorferflügel noch in köln ist, wo ich auch einen grossen teil meiner bibliothek und das atelier für bildnerische arbeiten habe. in wien ist bloss ein elektro-piano vorhanden, das sich wegen seiner beschränkung auf fünf oktaven, nur für barockmusik eignet. was mir schmerzlich fehlt, ist klassische und neuere musik von erik satie, alexander scriabin, béla bartók, arnold schönberg, anton webern und aktuellen komponisten spielen zu können. natürlich kann ich auf dem begrenzten e-piano auch meine eigenen kompositionen nicht repetieren, geschweige denn fortsetzen.
Wie geht man damit um, nicht mehr alles wie gewohnt machen zu können? Und gibt es umgekehrt etwas, was Sie am Alter positiv überrascht?
Rühm: ich habe allein durch meine poetischen und bildnerischen arbeiten einen so breitgefächerten tätigkeitsbereich, dass ich mehr zu tun habe, als mir zeitlich zu bewältigen möglich ist. was mein alter betrifft, habe ich dazu nur wenig beziehung. ich fühle mich eigentlich zeitlos.
APA: Sie sind 1964 nach Deutschland gezogen, seit kurzem leben Sie wieder in Wien. Was hat Sie dazu bewogen und wie erleben Sie den Alltag in Wien im Vergleich zu der Zeit, als Sie weggingen?
Rühm: 1964 wurde ich aus österreich wegen beruflicher ablehnung und chancenlosigkeit förmlich vertrieben, während mir in berlin sogleich alle türen offenstanden. das nachkriegsklima in österreich war erzkonservativ, mit altnazis bis in regierungsämter verseucht. als an der aufarbeitung auch der kulturellen verbrechen der nazis und an geistigem fortschritt interessierter, musste man diese zeit als erstickend, ja feindlich erleben. junge leute können sich das heute nicht mehr annähernd vorstellen. wien ist inzwischen eine äusserst lebendige stadt und mit dem dumpfen nachkriegswien, das bis zur demokratischen wende kreiskys andauerte, nicht mehr zu vergleichen.
APA: Sie werden nach wie vor vor allem mit der Wiener Gruppe assoziiert. Nach dem Tod von Oswald Wiener sind sie der letzte Verbliebene der Gruppe. Stört Sie diese Art der Vereinnahmung?
Rühm: die fünf mitglieder der "wiener gruppe" (friedrich achleitner, h.c. artmann, konrad bayer, gerhard rühm und oswald wiener) mit den damals nur wenigen sympathisanten wie friederike mayröcker und ernst jandl waren aus dem offiziellen kulturleben verbannte einzelkämpfer, die - wie wir erfahren konnten - im innenministerium auf einer liste verabscheuter personen standen, die aufgrund ihres indiskutablen verhaltens keinesfalls einer förderung für wert erachtet wurden. die "wiener gruppe" ist inzwischen international verankert, man kommt um sie nicht mehr herum. natürlich stehe ich nach wie vor voll für sie ein, auch wenn von uns seither viel weiterführendes entwickelt wurde. erst vor kurzem ist übrigens im berliner verlag spector books ein reprint des von mir 1967 bei rowohlt herausgegebenen sammelbandes "die wiener gruppe" erschienen.
APA: Wir stehen vor einer möglichen Blau-Schwarzen Bundesregierung mit einer FPÖ, die angekündigt hat, "die freie Weiterentwicklung der eigenen Kultur" fördern zu wollen. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?
Rühm: höchst besorgt. sollte die so rechtsreaktionär auffällige fpö wirklich den nächsten bundeskanzler stellen, wäre das für ein demokratisches österreich und damit auch für ein sich frei entfaltend könnendes kulturverständnis eine absolute katastrophe.
APA: Als junger Mann sind Sie knapp der Einberufung in den Zweiten Weltkrieg entgangen und haben danach Jahrzehnte des relativen Friedens und Wohlstands erlebt. Wie geht es Ihnen mit den jüngst ausgebrochenen Krisen und Kriegen, sowohl in der Ukraine als auch in Israel?
Rühm: die gegenwärtige weltlage macht zutiefst pessimistisch. die so gut wie ungebremste umweltzerstörung wird unvorstellbar schreckliche folgen haben, was sich ja bereits unübersehbar abzeichnet. die menschheit wird von einer reihe blinder egomaner demagogen in den untergang manövriert. ein erschreckend hoher prozentsatz unwissenden und daher unbelehrbaren wahlvolks jubelt ihnen dabei noch zu.
APA: Ihr Vater war Philharmoniker. Haben Sie sich damals trotz oder wegen seiner Profession zunächst der Musik verschrieben?
Rühm: ich bin in einem musikalischen elternhaus aufgewachsen. alles denken und tun kreiste um die musik. meine ersten musikalischen kenntnisse gehen auf den einfluss meines vaters zurück. nach der nazibarbarei stellte sich allerdings heraus, dass deren diskriminierende bezeichnung "entartete kunst" für alles in der kunst ungewohnt neue nach wie vor seine zustimmung fand. mit der haltung der wiener philharmoniker konform, lehnte er alle neue musik entschieden ab. das führte mit einem schönbergfan, der ich gleich nach der ersten begegnung mit dessen musik war, zu nicht enden wollenden streitereien.
APA: Ein Großteil der deutschsprachigen Literatur hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend wieder dem klassischen Erzählen verschrieben. Wie stehen Sie zu dieser Entwicklung?
Rühm: wir leben in einer restaurativen epoche - vorübergehend. die psychologie der kunstentwicklung verläuft mehr oder weniger wellenförmig. ich kann in einem rückgriff auf vergangene künstlerische verfahrensweisen nichts erstrebenswertes sehen. epigonales getue ist mir zuwider. es hat immer kunst gegeben, die in ihrer zeit fortschrittlich war und eine solche die am hergebrachten hängenblieb. übriggeblieben ist dabei stets diejenige, die zu überraschen vermochte, neues vermittelte. beethoven war seinerzeit - nicht nur in meinen augen - ein radikaler "avantgardist". ebenso wie richard wagner, debussy, stravinsky und schönberg.
in der poesie vollzog die "konkrete poesie" den entscheidenden schritt zu einem neuen sprachverständnis. daraus haben sich vielfältige schritte zu neuen positionen ergeben - und diese wiederum zu neuen. das geht zeitweise geruhsamer, zeitweise abrupter vor sich. noch ein paar sätze zu dem terminus "lyrik". ich verwende ihn für zeitgenössische dichtung schon lange nicht mehr, er ist verstaubt oder, milder gesagt, historisch. "gedicht" hingegen hat etwas mit ver-dichtung zu tun, was mir als zentralbegiff für artifizielle sprachgestaltung durchaus passend erscheint. da diese nicht mehr grundsätzlich zwischen "lyrik" und prosa unterscheidet, bevorzuge ich den allgemeinen begriff "text". also "poetischer text" im unterschied zu sachlichen und theoretischen texten.
APA: In Hamburg läuft derzeit mit "Die Maschine" eine hervorragende Inszenierung von Georges Perecs gleichnamigem Text, in dem Goethes "Über allen Gipfeln" mithilfe einer Maschine unablässig de- und rekonstruiert wird. Heutzutage könnte das eine Künstliche Intelligenz erledigen - wobei der künstlerische Wert natürlich fraglich bleibt. Interessieren Sie sich eigentlich für diese neuen Möglichkeiten der Sprachverarbeitung?
Rühm: die "künstliche intelligenz" verheisst sicher chancen einer erheblichen arbeitszeitverkürzung beim verfassen künstlerischer und wissenschaftlicher texte. wie weit sie imstande ist, selbst etwas von geistigem interesse hervorzubringen, muss vorläufig noch in frage gestellt werden. ich selbst halte es für nicht unmöglich, befürchte aber mit seinem nobelpreisgeehrten erfinder geoffrey hinton, dass die ungehemmte weiterentwicklung der ki höchste gefahren birgt. wir könnten schon in naher zukunft gefahr laufen, als sklaven der künstlichen intelligenzler missbraucht, wenn nicht ausgerottet zu werden.
APA: Das bringt mich zu Ihrem neuen Buch, dem Band "zugvögel", bei der Ihnen Martina Kudláček 12 Wörter vorgegeben hat, zu denen Sie dann 37 Prosa-Miniaturen geschrieben haben. Welche Bedeutung hat diese Arbeit für Sie?
Rühm: gemeinschaftsarbeiten mit gleichgesinnten zu produzieren macht grossen spass und die ergebnisse sind zudem interessant, weil sie oft ergebnisse liefern, die so keiner allein hätte hervorbringen können und damit einen überraschungseffekt haben. etliche der ausformulierten texte haben wir übrigens gemeinsam noch überarbeitet. die beigefügten fotos mit dem titel "stillleben" ergaben sich spontan nach zufällig aufgefundenen, uns reizvoll erscheinenden motiven. sie sind keineswegs als illustrationen zu den texten zu verstehen, sollten sie aber in ihrer 12 Zahl organisch gliedern. martina hat als bedeutende kunstfilmerin zur kamera eine besondere beziehung, während ich mich mit dem medium foto in form der collage seit den frühen fünfziger jahren intensiv beschäftigt habe.
APA: Sie treten auch immer wieder mit jüngeren Kolleg*innen - etwa in der Poesiegalerie auf. Wie steht es um die zeitgenössische Lyrik?
Rühm: es gibt wohl keine kunstform, die derart inflationär betrieben wird wie die sogenannte "lyrik". fast jeder glaubt selbst lyrik verfassen zu können, weil er täglich die umgangsprache praktiziert und glaubt mitteilenswerte gedanken und gefühle zu haben, auch wenn sie noch so trivial sind. fast alles, was sich da aufstapelt, ist indiskutabel. natürlich gibt es immer wieder genügend gedichte, die auch gehobene ansprüche erfüllen. ich freue mich über autorinnen und autoren, denen qualitatives gelungen ist und gelingt.
APA: Das mumok würdigt Ihren Geburtstag mit einem Fest, bei dem Sie auch eine Sprechperformance planen. Im Frühjahr folgt in Graz eine Retrospektive. Wie gehen Sie mit Würdigungen um?
Rühm: ich habe meine geburtstage fast immer übergangen. geburtstagsdaten sind ja völlig irrelevant. die exakte dauer eines geburtsjahres müsste jedes jahr penibel eruiert werden. ich gebe zu, dass ich mich diesmal freue, wenn mein geburtstag zum anlass einer würdigung meiner künstlerischen arbeit gerät.
(Die Fragen stellte Sonja Harter/APA)
Zusammenfassung
- Gerhard Rühm, der am 12. Februar seinen 95. Geburtstag feiert, lebt seit 2024 wieder in Wien und arbeitet an einem Großprojekt auf Basis der Charta der Menschenrechte.
- Rühm bedauert, in Wien nur ein E-Piano mit fünf Oktaven zu haben, was ihn in seiner musikalischen Arbeit einschränkt.
- Er äußert sich besorgt über die Möglichkeit einer rechtsreaktionären FPÖ-geführten Regierung in Österreich und deren Auswirkungen auf die Kultur.
- Rühm zeigt sich skeptisch gegenüber der unkontrollierten Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz und sieht darin potenzielle Gefahren.
- Zum 95. Geburtstag plant das mumok eine Würdigung, bei der Rühm auch eine Sprechperformance durchführen wird.