Goebbels ließ bei Wien Modern abwesende Stimmen erklingen
Denn während das Ensemble Modern Orchestra sich noch seinen Platz auf der Bühne suchte und scheinbar erste Einspielübungen vollführte, wurde naturgemäß noch eifrig getratscht und geplaudert. Doch so unscheinbar das vonstatten ging, so plötzlich war man mittendrin im Werk des heuer 70 gewordenen Künstlers. Sukzessive schälten sich aus dem ausgiebig ausstaffierten Klangraum - zu den langsam verstummenden Gesprächen gesellten sich im Hintergrund Aufnahmen vom Band - erste Motive heraus, zog Dirigent Vimbayi Kaziboni seine mehr als 60 Musiker mal hierhin, mal dorthin, um die Möglichkeiten abzustecken.
Und diese waren äußerst vielfältig - wie bei Goebbels nicht anders zu erwarten. Mal türmten sich die Streicher und Bläser zu immer höheren Gebilden, bevor einem Wolkenbruch gleich die kompositorische Erlösung folgte, mal ging es ins Detail fein verästelter Melodien, die kaum zu greifen waren ob ihrer unruhigen Energie. Die von Goebbels ausgewählten Sprachsamples waren im Umfang letztlich deutlich geringer, als es das Konzepte vermuten ließ, und dienten vordergründig als Absprungpunkte für Komponist wie Musiker, um sich von Rhythmus und Klang inspirieren zu lassen.
So konnten auf "Stein, Schere, Papier" auch mal Verkehrsgeräusche folgen, während nach einem äußerst kontemplativen Mittelteil in der zweiten Hälfte die weltmusikalischen Sphären erkundet wurden. Hier waren es beinahe pulsierende Wortkaskaden von Nachfahren der Nama und Herero, die Anfang des 20. Jahrhunderts von der deutschen Kolonialmacht beinahe ausgelöscht worden waren. Und obgleich der historische Kontext unglaubliche Schrecken offenbart, verstand es Goebbels, seine musikalische Aufarbeitung nicht ohne Lichtblicke vonstatten gehen zu lassen.
Dementsprechend wurde man zum Schluss hin mit einigen geradezu optimistischen, jedenfalls äußerst harmonischen Passagen aus diesem durchaus fordernden Abend entlassen. Die Intensität war über die knapp zwei Stunden zwar nicht immer ganz am Anschlag, entziehen konnte man sich dem Sog aus Komposition und Darbietung aber zu keiner Sekunde. Zudem sorgten klug eingesetzte Lichteffekte und so mancher choreografisch angelegter Besetzungswechsel für kleine Irritationen, die die Aufmerksamkeit hoch hielten. Passend für ein Fest der Stimmen und Stimmungen, für das die Mitwirkenden und allen voran Goebbels am Ende ausgiebig bejubelt wurden.
(S E R V I C E - www.wienmodern.at)
Zusammenfassung
- Ein Gespräch beginnt oft unverhofft: So auch bei Heiner Goebbels' "A House of Call", das Samstagabend im Rahmen von Wien Modern das Volkstheater zum Klingen und Vibrieren brachte.
- Der deutsche Komponist und Regisseur hat für sein vor einem Jahr uraufgeführtes Stück Sprachaufnahmen aus 100 Jahren zusammengesammelt und sie in ein musikalisch mannigfaltiges Korsett gepackt.
- Selbst das Publikum wurde eingangs zum unwissentlichen Bestandteil.