Gerhard Rühm schenkte sich zum 95er ein Sprechkonzert
"Ich bin überwältigt von dieser großartigen Veranstaltung", zeigte sich der Jubilar gerührt auf der Bühne in der mumok Hofstallung gestern Abend, bevor er mit einem Sprechkonzert begann. Er ließ es sich auch nicht nehmen, das Scheitern der blau-schwarzen Regierungsverhandlungen zu kommentieren: "Erfreulicherweise sind heute auch die politischen Verhandlungen kaputt gegangen", freute sich Rühm. "Kickl als Bundeskanzler ist ja eine katastrophale Vorstellung."
"Für sein Alter" ginge es ihm "erstaunlich gut", meinte der Universalkünstler in einem APA-Interview Anfang Februar. Das sah man auch an diesem Abend. "Sie haben so viel Elan und Energie und ich hoffe, dass dies noch viele Jahre anhalten wird", gratulierte dem Geburtstagskind auch Karola Kraus, die Generaldirektorin des mumok.
Rühm las neue Laut- und Liebesgedichte von "suchenden Blumen" und "magischen Annäherungen" vor. Denn, so witzelte der Künstler des Jahrgangs 1930, der vor zwei Jahren seine Frau verlor: "Man kann auch mit 95 noch Liebesgedichte schreiben". Er präsentierte auch die "ungleichen brüder", von denen es heißt: "kain schlief mit den schwestern / abel war von gestern". Das bessere Ende fand der lustigere Bruder: "kain war alt, uralt / abel starb schon bald". Rühm trug auch "ein lautgedicht" und eines von der "Skriptomanie" vor.
Mit seiner Kombination aus Literatur, Musik und visueller Kunst hat Rühm die österreichische Kulturszene über Jahrzehnte hinweg maßgeblich beeinflusst, auch wenn er sich 1964 dazu veranlasst sah, nach Deutschland zu gehen, weil er in Wien nicht publizieren konnte. "Ich wollte eine radikaldemokratische Sprache machen", so der Avantgarde-Künstler, der gestern Abend auch an seine verstorbenen Freunde Oswald Wiener, Günter Brus, Friederike Mayröcker, Julia Reichert und Gerhard Jaschke erinnert wissen wollte. "Das ist das Traurigste am Altwerden", so der 95-Jährige, "Freunde zu verlieren".
Ein Vielarbeiter: Kommende Projekte
In einem Gedicht hießt es an einer Stelle: "mir ist nicht bange / ich kann noch lange". Auch im hohen Alter ist Rühm, der vor zwei Jahren nach Wien zurückgekehrt ist, ein Vielarbeiter. Im Ritterverlag eben erst erschienen ist "zugvögel - 36 prosa-miniaturen + eine zugabe", eine Gemeinschaftsarbeit mit der Künstlerin Martina Kudláček, die am 18. Februar im Literaturhaus vorgestellt wird. In dem Band praktizieren die beiden ein Schreibverfahren, das auf die Gemeinschaftsarbeiten der Wiener Gruppe zurückgeht.
Ferner wartet auf ihn eine für den April festgelegte Retrospektive bildnerischer Arbeiten in der Neuen Galerie Graz. Dazu kommt ein Großprojekt, das auf der Charta der Menschenrechte beruht, ein "utopisches Projekt", wie Rühm es nannte, "weil es über 1.400 Mitwirkende braucht". Alle Wienerinnen und Wiener sind dazu eingeladen, bei dieser Aktion am 22. Februar mitzumachen. Einzeln und nacheinander sollen die Menschen vor dem Portal des Wiener Volkstheaters "Wort für Wort" die aus dem Jahr 1948 stammende "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" vortragen. Die Worte sollen anschließend im Tonstudio zusammengeschnitten werden. "Ich bin richtig glücklich, dass das jetzt realisiert wird", so Rühm.
Ein besonderer Geburtstagsgruß kam in Form einer Videobotschaft auch von Elfriede Jelinek, die ein Gedicht über Menschen und Automaten in Rühm'scher Manier vortrug. "Ich schätze Elfriede Jelinek außerordentlich", war der Jubilar gerührt. Im Anschluss wurde von Heike Eipeldauer, Kuratorin und Stellvertretung der wissenschaftlichen Geschäftsführung (mumok), Musikwissenschafter Hartmut Krones, Literaturwissenschafter Thomas Eder und dem Kunstschaffenden Edek Bartz noch ein kurzer Versuch unternommen, das transgressive Werk von Rühm zu beleuchten. Das Fazit: "Es gibt keinen anderen wie ihn", so Bartz.
(S E R V I C E - www.literaturhaus-wien.at; www.museum-joanneum.at; https://www.mumok.at; www.volkstheater.at)
Zusammenfassung
- Gerhard Rühm feierte seinen 95. Geburtstag mit einem Sprechkonzert im mumok, wo er auch das Scheitern der blau-schwarzen Koalitionsverhandlungen kommentierte.
- Der Universalkünstler präsentierte neue Laut- und Liebesgedichte und erinnerte an seine verstorbenen Freunde, während er weiterhin an verschiedenen Projekten arbeitet, darunter eine Retrospektive und ein Großprojekt zur Charta der Menschenrechte.
- Elfriede Jelinek gratulierte Rühm mit einer Videobotschaft, und das Buch 'zugvögel' wurde als neues Werk veröffentlicht.