Frei nach Tschechows "Iwanow": "Die Überflüssigen" im TAG
"Der überflüssige, sich sinnlos gewordene Mensch ist ein immer wiederkehrender Topos der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Überfordert, verwirrt von den neuen Zeiten, verantwortungslos für sein Umfeld, erstickt er an Selbstmitleid", liest man über das "dramaturgische Teststäbchen", das die Bearbeitung in die Risse und Spalten der Tschechow-Figuren einführe. "Eine verlogene bürgerliche Fassade, die er gleichzeitig verzweifelt aufrechterhält und reflexiv entlarvt. Nichts Richtiges im Falschen." Und der künstlerische Leiter des TAG, Gernot Plass, selbst immer wieder mit eigenen Bearbeitungen im Haus präsent, spricht gar von dem "wohl reflektiertesten Abend seit langem am TAG".
Tatsächlich ist die Transponierung einer dem Untergang geweihten feudalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in unsere selbstzufriedene, die Zukunftsprobleme schlicht ignorierende Endzeit gelungen. Die drei ersten Akte spielen laut Einblendung zwischen Frühling und Herbst 2020, der Schlussakt im Heute. Die Corona-Lockdowns werden unaufdringlich eingeflochten. Fünf Personen umfasst das von Heiss ausgewählte Personal, das in einem mit weißen Schnur-Vorhängen immer neu gegliederten modernen Wohn-Ambiente (Ausstattung: Alexandra Burgstaller) um einander kreist und in dem sich die zentrale Figurenkonstellation von "Iwanow" wiederfindet.
Der junge Entrepreneur Nicki (Raphael Nicholas), dessen Freund und Berater Michael (Georg Schubert) verzweifelt gegen die Insolvenz der Firma kämpft (der Umsatz-Ersatz lässt auf sich warten, die Programmierer können nicht mehr bezahlt werden), hat sich weitgehend in eine Splendid Isolation zurückgezogen und spielt lieber gegen sich selbst Schach. Niemand sei bloß schwarz oder weiß, lautet sein Motto - dabei ist er selbst bereits Matt, ohne es wahrhaben zu wollen. Seine Frau Anna (Michaela Kaspar) ist schwer krank, betreut von dem ihr sehr zugewandten Arzt Konstantin (Jens Claßen). Doch Nicki (der niemand anderer als der titelgebende Iwanow ist, der an diesem 105-minütigen Abend mehrmals vergeblich angerufen wird) liebt seine Frau nicht mehr, sagt ihr nicht nur das, sondern auch die tödliche Diagnose direkt ins Gesicht. Bereitwillig erliegt er dem Werben der jungen Alex (Alina Schaller).
Doch "Die Überflüssigen" sind kein reines Konversationsstück. Sina Heiss, die 1981 in Tirol geboren wurde und in Linz Jazz-Gesang und Visuelle Mediengestaltung studierte, setzt in ihrem Soundtrack auf klassische Musik vom Plattenspieler, die immer bearbeitet wird (Musik: Philipp Kienberger). Störgeräusche und Interferenzen legen sich darüber und irritieren die Menschen: Liegt Spannung in der Luft oder kündigt sich ein Tinnitus an? Für die entsprechenden körperlichen Irritationen hat sich Heiss die Choreografin Katharina Senk an ihre Seite geholt. Zwischen Aussetzern und Auszuckern bis zu echten Tanztheater-Sequenzen reicht das dabei erarbeitete Bewegungsrepertoire, das sich gut in eine Inszenierung einfügt, die im Stillstand erstaunlich viel Abwechslung bietet.
Am Ende richten sich alle Fünf, inklusive der bereits gestorbenen Anna, mit ein paar Fragen direkt an das Publikum: "Sollen wir aufhören? Reden wir zu viel? Handeln wir zu wenig?" Sieht ganz danach aus. Das wird kein gutes Ende nehmen. Jedenfalls kein so ein gutes wie in der Gumpendorfer Straße: Applaus, Applaus und alle gehen nach Haus. Das wird es im Großen nicht mehr lange spielen...
(S E R V I C E - "Die Überflüssigen", frei nach "Iwanow" von Anton Tschechow, Text und Regie: Sina Heiss, Ausstattung: Alexandra Burgstaller, Musik: Philipp Kienberger, Choreografie: Katharina Senk. Es spielen Jens Claßen, Michaela Kaspar, Raphael Nicholas, Alina Schaller, Georg Schubert. Nächste Vorstellungen: 25., 26., 28.2., 2., 4., 5.3., TAG, Wien 6, Gumpendorfer Straße 67, www.dasTAG.at)
Zusammenfassung
- Regisseurin Sina Heiss zeigte das Stückpersonal als "Die Überflüssigen" - sie leben in einer Überflussgesellschaft.