Frauen-Opfer als Schauspielthema der Salzburger Festspiele
Bettina Hering über...
... die Leitlinien des Spielplans im Schauspiel:
"Wir haben mit Oper und Konzert immer eine gemeinsame thematische Ausrichtung gefasst. In diesem Jahr ist es das Opfer-Thema, das schon in der Ouverture spirituelle benannt wird und sich über die ganzen Festspiele zieht. Bei uns ist es das Thema 'Opfer der Frauen' resp. Frauen als Opfer - das leider unglaublich aktuell ist. Die 'Göttliche Komödie' ist der gemeinsame Referenzpunkt der diesjährigen Festspiele. Wir werden ihr - nach 'Ulysses' und 'Mann ohne Eigenschaften' - unsere dritte Marathon-Lesung widmen. Das sind Werke der Weltliteratur, die alle kennen und keiner gelesen hat. Unser Marathon ist von 19 bis ein Uhr früh angesetzt. Wir geben den Menschen damit die Möglichkeit, sich intensiv auf diese komplexen Inhalte mit tollen Lesenden und entsprechender Freude einzulassen. Es war mir immer wichtig, an einem Ort wie Salzburg sehr starke Regiehandschriften zu zeigen - stets in Kombination mit ganz wunderbaren Schauspielerinnen und Schauspielern. Das ist wie ein Reinhardt'scher Auftrag, den ich angenommen habe. An diesem Ort hat man die Möglichkeit, wirklich herausragende Kolleginnen und Kollegen zusammenzuführen."
... den Einfluss, den der Ukraine-Krieg auf das Programm hat:
"Natürlich haben wir mit allen Regisseurinnen und Regisseuren die Situation besprochen. Es fließt ja alles, was wir erleben, unmittelbar in die künstlerische Arbeit ein. Ich kenne keine kreativen Köpfe, bei denen das nicht der Fall ist. Das heißt aber nicht, dass Kunst 1:1-Abbild von dem ist, was wir unter Realität verstehen. Aber, dass das seine Spuren hinterlässt, ist ganz klar - das ist ja auch das, was diese spezifischen Künstler ausmacht. Beim 'Reigen' ist ein russischer Autor dabei, Mikhail Durnenkov, der bei Ausbruch des Krieges nach Helsinki geflohen ist und jetzt dort mit seiner Familie lebt. Ihn haben wir gefragt, ob er seine Szene neu schreiben will unter den jetzigen Umständen, und das hat er auch gemacht. Weil unser 'Reigen' ein jetziges Sittenbild abgeben soll, müssen wir reagieren, wenn das jemand möchte. In seinem Fall war das tragische Realität und beeinflusst unsere Produktion ganz direkt. An grundsätzliche Programmänderungen ist nicht gedacht. Es wird aber ein Symposion an drei Tagen im August (12./19./26.) in Zusammenarbeit mit den Freunden der Salzburger Festspiele geben, das sich der aktuellen Lage um den Krieg in der Ukraine widmet. Und beispielsweise hat die Lesung zu Thomas und Erika Mann und Stefan und Friderike Zweig, die ich zusammenstelle, jetzt unter dem Aspekt ihres Exils einen völlig anderen Twist bekommen."
... mögliches Misstrauen gegenüber klassischen Stückzugängen angesichts der diesjährigen Projekte:
"Ich misstraue Stücken überhaupt nicht. Es ist eine absolute Notwendigkeit, dass viele neue Stücke geschrieben werden, das ist ja die Basis des Theaters, dass es kontemporäre Zugänge gibt. Das Theater ist eine Form, die sich immer wieder neu erfindet - seit vielen hundert Jahren. Es ist auch eine Aufgabe des Theaters, den Kanon immer wieder neu zu überprüfen, das haben Autoren und Autorinnen zu allen Zeiten gemacht, und zu sehen, wie man sich ihm von heute annähern kann. Nehmen Sie nur den 'Jedermann', um ein für uns aktuelles Beispiel zu benennen, den Hugo von Hofmannsthal aus dem mittelalterlichen 'Everyman' entwickelt hat und der von Ferdinand Schmalz neu gefasst wurde. Es geht darum, dass das Theater ständig in formalen und inhaltlichen Diskursen steht. So schreibt und entwickelt sich Theater fort. Wir haben zum Beispiel letztes Jahr 'Maria Stuart' gemacht - das war Schiller pur."
... den diesjährigen "Jedermann":
"Dadurch, dass er eine wirkliche Wiederaufnahme mit derselben Besetzung ist, gibt es eine sehr viel kürzere Probenzeit, die gestaffelt ist. Nur bei der Tischgesellschaft gibt es zwei neue Kolleg:innen. Bis zur Premiere am 18. Juli haben wir verhältnismäßig viel Zeit, wobei wir natürlich sehr wetterabhängig sind und sich dadurch diese Zeit auch schnell verkürzen kann."
... das Konzept der "Reigen"-Fortschreibung durch zehn Autorinnen und Autoren:
"Das ist ein sehr spezifisches Konzept. Es ist ganz zu Beginn der Pandemie entstanden, wo wir uns gefragt haben: Was heißt Isolation? Was heißt Nähe? Was heißt künftig Begegnung, Körperlichkeit und Sexualität? Kommt man jemals wieder zusammen? Ich finde es nach wie vor eine absolut geniale Struktur, die Schnitzler da gewählt hat. Er hat die soziale Leiter ins Zentrum gestellt und die Ungleichheit damit einzementiert. Für uns hat sich schnell die Frage gestellt: Gibt es aus diesem Reigen, aus dieser Festschreibung der ungerechten Gesellschaft, einen Ausweg? Was ergäbe ein jetziges Sittenbild? Daraufhin haben wir mit großer Begeisterung Autorinnen und Autoren zusammengetragen, die in ihren jeweiligen Ländern starke Stimmen sind, inhaltlich etwas mitzuteilen haben, stilistisch interessant sind und sich mit gesellschaftlichen Themen beschäftigen. Es war eine große Freude, darüber zu diskutieren. Wir haben gesagt, die soziale Leiter soll bestehen bleiben - und die grobe Grundstruktur. Jeder und jede musste bereit sein zu sagen: Ich schreibe diese Szene, die mir zugeteilt wurde, weiß aber nicht, was in der Szene vorher und nachher passiert. Die Begeisterung bei den angefragten Autoren war groß. Es geht um eine polyfone Symphonie der Liebe und des Begehrens.
... Marlene Streeruwitz, die jedoch abgesagt hat:
"Sie war angefragt, und sie hat gesagt, was ich auch vermutet hatte, dass sie sich schon lange mit dem 'Reigen' und der Thematik beschäftigt. Sie hat mir ihren Text geschickt, den es schon länger gibt. Ich hab ihn gelesen und mit ihr darüber gesprochen. Sie war aber der Meinung, dass sie nicht in einem Umfeld mit neun anderen Autorinnen und Autoren vorkommen möchte. Ich hatte überhaupt kein Problem mit ihrer Entscheidung. Ich schätze Marlene Streeruwitz über alles und bin mit ihr in einem sehr guten Kontakt."
... "Reigen"-Regisseurin Yana Ross:
Sie wird diesen Abend als Regisseurin zusammenfügen - eine echte Aufgabe. Sie ist eine sehr mutige, sehr erfahrene Regisseurin und hat viel in sehr unterschiedlichen Ländern unter verschiedensten Bedingungen inszeniert - immer wieder mit neuen Ensembles und in neuen Sprachen. Sie hat sehr großes Interesse daran hat, neues Terrain zu erobern und ist eine starke Seismografin gesellschaftlicher Entwicklungen - gerade, weil sie nomadisch aufgewachsen ist. Sie hat lange in Amerika gelebt und dort studiert, ist hauptsächlich in Litauen ansässig und in ganz Europa tätig. Sie zeichnet eine große prinzipielle Neugierde aus, versehen mit einem hohen ästhetischen Bewusstsein, in das sie ihre Stoffe und Stücke packt. Ich habe etwa 'Geschichten aus dem Wiener Wald' in Vilnius von ihr gesehen - ich fand das total interessant. Dieses Projekt ist etwas, das ihr wirklich in die Seele geschrieben ist.
... "Iphigenia":
"Das ist ein weites Feld, um es sehr salopp auszudrücken. Iphigenie ist in allen künstlerischen Disziplinen über die Jahrhunderte hinweg verewigt worden. Goethe hat Euripides überschrieben und eine beeindruckende neue Wendung hinzugefügt mit seinem humanistischen Ansatz. Diese Figur der Iphigenia soll in dieser Koproduktion weitergeführt werden, um aus einem bestimmten Blickwinkel zu sehen: Was ist heute heutzutage ein Frauenopfer, und wo zeigt es sich vielleicht gar nicht auf den allerersten Blick? Durch den aktuellen Krieg in Europa überschlagen sich zusätzlich die Ereignisse. Im Falle von 'Iphigenia' lässt das natürlich alles nicht unbeeindruckt - trotzdem ist das kein Kommentar zur jetzigen Kriegssituation. Es ist eine ganz heutige, ganz freie Fortschreibung einer weiblichen Opferfigur ins 21. Jahrhundert aus der Sicht einer jungen Dramatikerin und einer Regisseurin. Die Vertuschung eines Missbrauchs ist hier die Tat, die innerhalb des Familienverbandes von der jungen Frau als Opfer gefordert wird. Ich finde unglaublich deprimierend und empörend, was gerade im Hinblick auf Frauen und Frauenrechte passiert, weltweit. Wir müssen nur an Amerika denken und an das Abtreibungsverbot, oder an Afghanistan, wo eine ganze Generation von Frauen von Bildung abgeschnitten wird. Der Backlash ist enorm.
... "Iphigenia"-Regisseurin Evelinia Marciniak:
"Sie ist wirklich eine hochbegabte Regisseurin, die in ihrem Heimatland Polen nicht nur die Ausbildung gemacht, sondern auch sehr viel inszeniert hat. Sie geht mit einer beeindruckenden Radikalität Stoffen auf den Grund und liegt mit der politischen Ausrichtung des Regimes überkreuz, gerade auch, was Frauen und Frauenrechte betrifft, und macht das klar zum Bestandteil ihrer Arbeit. Sie arbeitet sehr viel mit choreografischen Elementen, das finde ich ganz toll, das ist ein kräftiges Element ihrer Theatersprache. Sie fordert viel von sich und in einer großen Kollegialität auch von ihrem Team.
... "Ingolstadt":
"Das Wort Mash-Up würde ich nie verwenden, ich war entsetzt, diese Formulierung zu lesen, denn das ist ein Missverständnis. Richtig ist, dass die beiden zentralen Stücke von Marieluise Fleißer zusammengeführt werden, nämlich 'Fegefeuer in Ingolstadt' und 'Pioniere in Ingolstadt', das eine aus dem Jahr 1926, das andere aus 1929. Ingolstadt ist dabei ein Synonym für die Enge einer Kleinstadt und in diesem Falle, einer Gesellschaft, aus der es kein Entrinnen gibt. Im einen Stück geht es um die katholischen Rituale, wo gerade die jungen Frauen gar keinen Ausweg finden, im anderen eher um die militärischen, männlichen, durchaus gewalttätigen Rituale. Die beiden Stücke werden ineinander verzahnt, in einer sehr schönen Fassung von Koen Tachelet, in der nichts verloren geht, sondern ganz im Gegenteil ein intensiveres Panorama dieser beklemmenden Grundsituation entsteht. Es ist Fleißers Panorama, Ingolstadt ist ihr Geburts- und Schicksalsort. Das ist eine Hommage an sie und an ihren zentralen Ort. Ich bin sehr froh, dass wir Fleißer bei uns auf einem großen Tablett präsentieren können. Elfriede Jelinek sagt von ihr, sie sei die größte Unbekannte - hoffentlich können wir das ein Stück weit mit dieser Inszenierung verändern.
... "Ingolstadt"-Regisseur Ivo van Hove:
"Ich habe über viele Jahre Inszenierungen von ihm gesehen. Ich finde, dass er ein großer Stilist ist, aber auch mit einer unglaublichen Wucht und Energie arbeitet. Man denke nur an die ganzen Shakespeare-Dramen, die er zusammengeführt hat, oder an 'Maria Stuart'. Die Energie, mit der er diese Stoffe zum Sausen gebracht hat, finde ich auch für Fleißer wichtig. Weil er sehr ästhetisch-stilistisch arbeitet, hat er das in eine Welt gesetzt, die ich faszinierend finde, eine Welt der Überwachung, die aber auf einen modernden Grund steht - wie ein Vexierbild, das von der einen Situation zur anderen springt. Es war ein großer Wunsch von uns allen, das junge Burgtheaterensemble hier zu zeigen. Es ist ja ein Stück über die junge Generation. Energie und Vitalität ist ganz wichtig bei dem Stoff, aber auch Komplexität und Sprache. Es ist ein Stück über eine Jugend, die zwischen den Generationen zerrieben wird.
... Thorsten Lensing und "Verrückt nach Trost":
"Thorsten Lensing macht wirkliches Schauspielertheater. Er hat seine eigene Rolle im deutschsprachigen Theaterkosmos kreiert und gefunden. Er arbeitet in keinem festen Haus, hatte viele Angebote, Oberspielleiter oder Intendant zu werden. Das will er nicht. Er ist jemand, der auf eine im besten Sinne sehr widerborstige Art und Weise alle zwei, drei Jahre seine eigenen Projekte mit den Schauspielern erschafft. Dafür hat er sich über die letzten Jahre einen gewissen Stamm an Schauspieler*innen aufgebaut. Die Vier, die bei uns mitspielen, Sebastian Blomberg, Devid Striesow, Ursina Lardi und André Jung, gehören alle dazu. Sie verbindet große Spielfreude, Lust am Ausprobieren und Improvisieren. Ihre Produktionsweise, die sich über Monate zieht, ist ganz abseits vom Theater-Mainstream, das finde ich toll und erstaunlich, und man merkt den Produktionen an, dass das Leute sind, die einander unglaublich vertrauen und im Spiel befeuern. Thorsten Lensing hat unter anderem den 'Kirschgarten' inszeniert, 'Onkel Wanja', 'Der unendliche Spaß' von David Forster Wallace. "Verrückt nach Trost" hat er für dieses Ensemble selber geschrieben und mit den Schauspielern entwickelt. Es ist innerhalb dieser solitären Produktionsweise eine absolut folgerichtige Entwicklung. Es geht um ein Geschwisterpaar, das früh die Eltern verliert und auf sich alleine gestellt ist. Sie sind quasi Opfer der Umstände. Sie versuchen, ihr Leben zu stemmen und einander durchs Leben zu begleiten - was nicht einfach ist."
... die - mit Ausnahme von Lydia Haider im "Reigen" - fehlenden jungen österreichischen Dramatiker:innen:
"Wir haben vieles in den letzten Jahren gezeigt, aber man kann auch bei den Salzburger Festspielen nicht alles abdecken. Das ist so. Das ist kein Repertoirehaus, das ist ein Kuchenstück und dieses muss mit ganz außerordentlichen Zutaten hergestellt sein. Es bleibt aber immer ein Ausschnitt aus dem Theaterkosmos, bei dem ich denke, dass es wichtig ist, verschiedene Zugänge mit- und nebeneinander zu präsentieren.
... andere Programmpunkte, die man nicht versäumen sollte:
"Ich finde die Lesung aus 'Madame Bovary' wichtig, weil es eine Frauenfigur ist, die Opfer und Täterin ist, wenn man so will - ein großartiger Roman. Mit Martina Gedeck und Claudia Michelsen stehen zwei wunderbare Schauspielerinnen auf der Bühne, für die ich die schon zitierte Zweig - Mann Lesung geschaffen habe und dann kommen die 'Reigen'-Autorinnen und -Autoren nach Salzburg. In drei Gruppen finden drei "Schauspiel-Recherche" -Abende statt. Jede und jeder wird etwas in seiner Sprache lesen, dazu gibt es moderierte Gespräche. Leider wird Leila Slimani vermutlich nicht kommen können, weil sie einen kulturellen Auftrag von Frankreich hat und zu genau diesem Termin in New York sein muss. Und Kata Wéber ist aufgrund ihrer momentanen Arbeit an Dreharbeiten in den USA ebenfalls verhindert. Wir zeigen auch noch ein kleines Filmprogramm zum 'Reigen' mit vier herausragenden Filmen, von Ophüls bis Dominik Graf, der auch unser Gast sein wird."
... ihre Zukunft:
"Ich stecke schon tief in der Planung für 2023 drinnen. Das sind ja quasi Parallelleben, die man führt. Das wird mein letztes Jahr sein. Ich hatte einen 5-Jahres-Vertrag und für mich war es genau richtig, noch einmal für zwei Jahre zu verlängern. Sieben Jahre sind bei den Salzburger Festspielen eine wirklich lange Zeit in meiner Position. Auch im Vergleich zu meinen Vorgängern ist das eine große Konstanz. Es ist toll, wenn man über längere Zeit etwas gestalten kann. Aber für mich kommt das 2023 zu einem runden Abschluss. Für die Zeit danach sondiere ich erst einmal."
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
Zusammenfassung
- Mit einer "Jedermann"-Vorstellung am Abend des 18. Juli beginnen die Salzburger Festspiele ihr Programm. Es ist die vorletzte Ausgabe, die im Theaterbereich von Bettina Hering programmiert wird. Die frühere Intendantin des Landestheaters Niederösterreich ist seit 2017 Schauspieldirektorin. Im Gespräch mit der APA skizziert sie die Leitlinien des Programms, geht auf einzelne Produktionen und ihre Regieteams ein und verrät, warum sieben Jahre für sie gerade lang genug sind.