Festwochen - "Parallax": Suche über Generationen hinweg
Wer im Vorjahr bei den Wiener Festwochen Mundruczós Stück "Pieces of a Woman" gesehen hat, kannte den Kniff bereits, mit dem "Parallax" eingeläutet wird: Das Publikum sitzt vor einer Hausfassade, nur durch die Fenster sieht man die Schauspielerinnen. Zwei Handkameras halten das auf Leinwände projizierte Geschehen aus dem Wohnungsinneren für die ersten rund 20 bis 30 Minuten fest. Erst dann verschwinden Barriere und der Filmeindruck.
Zu sehen ist eine verwirrt wirkende alte Frau, die in einer kleinen Wohnung in Budapest zu eindringlich-düsterer Musik zwar einen Teebeutel in eine Tasse hängt, aber auf das Wasser vergisst. Im Gespräch mit ihrer Tochter Lena kristallisiert sich heraus, dass sie eine Ehrenmedaille für das Überleben des Holocausts erhalten soll. Sie lehnt das ab, um nicht aus einer Tragödie Gewinn zu schlagen. Auch will sie Lena, die ihren Sohn auf eine jüdische Schule in Berlin schicken möchte, keinen Nachweis dafür aushändigen, dass sie jüdisch ist. Zu groß ist die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte. Das ist angesichts einer beklemmenden Erzählung über ihre ersten Lebensjahre, die sie im Konzentrationslager verbringen musste, nicht schwer nachzuvollziehen.
Auch bei Lena hat der Holocaust tiefe Spuren hinterlassen. Von der Mutter wurde ihr von Beginn an Misstrauen eingeimpft. Nie spielte sie unbeschwert im Park, sehnte sich stets nach einer ehrlichen Umarmung. Ihr Sohn soll in Berlin dagegen sorgenfrei aufwachsen.
Als 20-Jähriger kehrt dieser für die Beerdigung der Großmutter nach Budapest zurück und schmeißt in der Wohnung seiner verstorbenen Oma prompt eine drogenintensive Sexparty mit vier weiteren Männern. Bei drückendem Bass geht es auf einem "antiken" Tisch explizit zur Sache und so mancher mit Koks vollgepumpter Körper sucht im Kühlschrank Abkühlung. Mit an Bord ist neben einem partywütigen 45-jährigen Uni-Dozenten auch ein konservativer Ministeriumsbeamter, der seine Homosexualität der Mehrheitsgesellschaft nicht aufdrücken will. Jonas weiß dagegen noch nicht so recht, was er möchte. Gegen die Bezeichnung als schwul sträubt er sich. Auch in die Schubladen Jude, Deutscher oder Ungar passt er nicht so recht. Vielleicht ist er einfach Berliner?
Es sind nur wenige ausgewählte Szenen, mit denen Mundruczó versucht, dem Publikum eine höchst emotional-komplexe Familiengeschichte darzulegen. Auch dank tollem Text (Kata Wéber) und den Schauspielern der freien Gruppe Proton Theatre gelingt das erstaunlich gut. Zur Auflockerung gibt es einen Überraschungseffekt, der sich gewaschen hat, explizite Sexszenen und gelungene Situationskomik.
Bemüht wirkt dagegen der Beginn hinter der Wohnungsfassade. Bei "Pieces of a Woman" erwies sich der Kameraeinsatz als kluger Schachzug, um Nähe in einer höchst intimen Situation zu schaffen. "Parallax" springt etwas verkrampft auf den Zug auf.
Den gelungenen Eindruck trübt das aber kaum. Es bleibt tolles Theater, das ein Ausrufezeichen für die in Ungarn stark unterdrückte LGBTIQ+-Community setzt. In Österreichs Nachbarland dürfte das Stück wohl auf so manche Hürde stoßen. Umso wichtiger, dass man "Parallax" in Wien eine Bühne bietet. Denn am Schluss tanzt jeder wie er will - Schubladen verboten.
(S E R V I C E - "Parallax" im Rahmen der Wiener Festwochen im Museumsquartier, Halle G, Museumsplatz 1, 1070 Wien. Regie: Kornél Mundruczó, Text: Kata Wéber, Eine Produktion des Proton Theatre, Mit: Lili Monori, Emöke Kiss-Végh, Erik Major, Roland Rába, Sándor Zsótér, Csaba Molnár, Soma Boronkay, Dramaturgie: Soma Boronkay, Stefanie Carp, Bühne: Monika Pormale, Kostüm: Melinda Domán, Licht: András Eltetö, Musik: Asher Goldschmidt, Choreografie: Csaba Molnár. Weitere Aufführungen am 28., 29., 30. und 31. Mai. https://www.festwochen.at/parallax)
Zusammenfassung
- Kornél Mundruczó präsentierte sein neues Stück 'Parallax' bei den Wiener Festwochen, das eine generationenübergreifende Identitätssuche thematisiert und langen Applaus erhielt.
- Das Stück beginnt mit einer Hausfassade, durch deren Fenster das Publikum die ersten 20-30 Minuten die Schauspieler sieht, bevor die Barriere verschwindet.
- Eine alte Frau in Budapest, die den Holocaust überlebt hat, lehnt eine Ehrenmedaille ab und verweigert ihrer Tochter einen Nachweis über ihre jüdische Herkunft.