APA/APA/Schauspielhaus Graz/Lex Karelly

"Entgleisungen": Köck-Uraufführung beim steirischen herbst

Dem Jahr und seinen Ereignissen vor der Nationalratswahl "irgendwie einen Strich durch die Timeline zu machen", war das Motto von Thomas Köck, als er im Auftrag der Schauspielhäuser Wien und Graz begann, seine "Chronik der laufenden Entgleisungen" zu schreiben. Mit dem Zusatz "(Austria revisited)" hat Marie Bues den bereits im Sommer in Buchform erschienenen und alles andere als theatralen Text nun im Rahmen des steirischen herbst in Graz zur Uraufführung gebracht.

Im Schauspielhaus Graz ist es der Co-Leiterin des Schauspielhauses Wien gelungen, die 368 Buchseiten, die am kommenden Samstag in einer Marathonlesung samt Demozug in Wien zu Gehör gebracht werden, in eine bühnentaugliche, zweistündige Kurzform zu gießen: Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler stecken in roten Adidas-Trainingsanzügen, deren weiße Streifen nicht von ungefähr an die österreichische Flagge erinnern (Kostüme: Amit Epstein). Zunächst eingesperrt in einen kleinen, mit semitransparenten Vorhängen verhüllten Kubus, murmeln sie alle wild durcheinander, immer wieder sind einzelne Fetzen zu vernehmen: "Über Wahlanfechtungen, über Wahlwiederholungen, über Wahlgewinnerinnen..." Ganz klar: Die am kommenden Sonntag stattfindende Nationalratswahl ist der Kristallisationspunkt dieses Abends: "Die Frage ist, ob es in gut einem Jahr in Österreich einen rechtsextremen Kanzler geben wird. herbert. Wir nennen das ab jetzt den herbertkomplex."

Köck hat seinen Text, in dem er mit Datum versehene Tagebucheintragungen zu prägenden Geschehnissen - vom Gendererlass in Niederösterreich bis zur Benko-Pleite, vom rechtsextremen Geheimtreffen in Potsdam bis zu Vandalenakten gegenüber jüdischen Institutionen - aneinanderreiht, mit privaten Erlebnissen und Erinnerungen verwoben. So erinnert er sich an jene frühe Spaltung der Gesellschaft, die er als Nicht-Akademikerkind bereits in der Schule erlebt hat oder berichtet von einer Freundin, deren Vater im Krankenhaus aufgrund seines ausländischen Namens unzureichend behandelt wurde.

All diese Miniaturen tragen die Schauspieler - teils in grotesk anmutender Choreografie zappelnd, zitternd und sich verrenkend - in verteilten Rollen vor, sprechen teils direkt ins Publikum, dann wieder - fast schon ungläubig angesichts der zahlreichen rechten Entgleisungen - sich gegenseitig an. Immer weiter entfernen sie sich von der kleinen Welt des mittlerweile nackten Kubus, machen sich die große Bühne zu eigen und bespielen schließlich auch jenes Gerüst, das im Bühnenhintergrund einen weiteren Rahmen schafft und auf dessen Leinwänden schließlich auch Live-Videoaufnahmen projiziert werden (Bühne: Heike Mondschein).

Dem Publikum wird an diesem Abend, der außer dem Fortschreiten des protokollierten Jahres keinen Handlungsbogen aufweist, höchste Konzentration abverlangt. Zahlreiche potenzielle Premierenbesucher waren allerdings fern geblieben, die Reihen wiesen auffällig viele Lücken auf. Belohnt wurden jene, die kamen: Es ist der Eindringlichkeit des Vortrags zu verdanken, dass die oft nur angerissenen Ereignisse greifbar werden. Allen voran Mervan Ürkmez, Otiti Engelhardt und Tala Al-Deen oszillieren in ihren Vorträgen zwischen bitterem Sarkasmus und erschütternder Betroffenheit angesichts der Anbahnung einer sich wiederholenden Geschichte. Und so hangeln sie sich gemeinsam mit Karola Niederhuber, Kaspar Locher und Sophia Löffler durch die von Köck protokollierten Jahreszeiten vom "Sommerloch" über die "Herbsterschöpfung" bis hin zu "Winterdepression" und "Frühjahrsmüdigkeit", begleitet und getragen vom Livesound Lila-Zoé Krauß, die mit ihrem Pult hoch oben über der Bühne thront.

Am Ende dreht sich nicht nur der Kubus wie wild im Kreis und wirbelt Hunderte von Manuskriptseiten durcheinander, auch dem Autor, dem klar wird, dass auch er keine Lösung gegen die zunehmende Spaltung und den Rechtsruck parat hat, schwirrt der Kopf. Das hat das Stück vielleicht auch bei dem einen oder anderen Zuschauer bewirkt. Am Donnerstag feiert die "Chronik der laufenden Entgleisungen (Austria revisited)" dann am Schauspielhaus Wien Premiere, bevor die Marathonlesung am Samstag um 14 Uhr im Literaturhaus Wien beginnt und in Folge als Demozug über die Alte Schmiede, das Lueger-Denkmal und die Kaufhausbaustelle "Lamarr" zum Schauspielhaus Wien zieht. Die akklamierte Uraufführung jedenfalls verfehlte ihre Wirkung nicht. Beim Publikumsgespräch im Anschluss bedankte sich eine Besucherin beim Leading-Team: "Jetzt ist mir richtig klar, wie wichtig es ist, zur Wahl zu gehen."

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - steirischer herbst: "Chronik der laufenden Entgleisungen (Austria revisited)" von Thomas Köck, Regie: Marie Bues, Bühne: Heike Mondschein, Kostüme: Amit Epstein, Live-Musik Lila-Zoé Krauß. Mit Mervan Ürkmez, Otiti Engelhardt, Tala Al-Deen, Karola Niederhuber, Kaspar Locher und Sophia Löffler. Koproduktion von Schauspielhaus Graz und Schauspielhaus Wien. Weitere Termine in Graz: 4., 9., 11., 15., 17., 23. Oktober. Termine in Wien: 26., 28., und 29. September, 1. und 2. Oktober. www.schauspielhaus.at, https://schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com/)

ribbon Zusammenfassung
  • Thomas Köck schrieb die 'Chronik der laufenden Entgleisungen' im Auftrag der Schauspielhäuser Wien und Graz.
  • Die Uraufführung fand im Rahmen des steirischen herbst in Graz statt und komprimierte 368 Buchseiten in eine zweistündige Bühnenfassung.
  • Die sechs Schauspieler trugen rote Adidas-Trainingsanzüge, die an die österreichische Flagge erinnerten.
  • Die Nationalratswahl am kommenden Sonntag bildet den Kristallisationspunkt des Stücks.
  • Die Aufführung wird am Donnerstag in Wien wiederholt, gefolgt von einer Marathonlesung und einem Demozug.