"Die Unpolitischen": Ein vergessenes Stück Exilliteratur
Dass das Buch seinerzeit kaum auf Interesse stieß, lag nicht zuletzt daran, dass es in einem DDR-Verlag erschien. Zudem wurde damals mit keiner Silbe darauf aufmerksam gemacht, wer hinter dem vermeintlich lateinamerikanischen Autor Diego Viga steckte. In der nunmehrigen Neuauflage nennt ihn der auf spanische und lateinamerikanische Literatur spezialisierte Autor und (in diesem Fall) Herausgeber Erich Hackl jedoch beim Namen. Diego Viga war das Pseudonym für Paul Engel, den "großen Unbekannten der österreichischen Exilliteratur", wie es Hackl im Nachwort formuliert.
1907 in Wien in eine sich zum Glauben bekennende, diesen aber nicht überaus eifrig praktizierende jüdische Familie geboren, floh der studierte Mediziner nach dem 1938 erfolgten "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland nach Lateinamerika, wo er nach einem längeren Aufenthalt in Kolumbien in den früheren 1950ern seine Exil-Destination Ecuador erreichte. Dort verstarb er 1997 90-jährig in der Hauptstadt Quito. Auch der Großteil seiner Familie, darunter seine Ehefrau und die drei gemeinsamen Kinder, fanden in Lateinamerika ihre (neue) Heimat.
Ecuador nahm während des Zweiten Weltkriegs im Verhältnis zu seiner im Vergleich mit anderen Ländern der Region kleinen Einwohnerzahl, die im 1950 bei knapp 3,5 Millionen lag, relativ viele jüdische Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen "Dritten Reich" auf. Dies ist etwa am Friedhof der Stadt Guayaquil zu sehen, wo auch zahlreiche Emigranten mit österreichischen Wurzeln begraben liegen.
Die Ecuadorianer selbst waren sich dessen lange nicht bewusst. Aufklärung brachte 2015 der englischsprachige Film "Ecuador, an Unknown Country" der Regisseurin Eva Zelig, der in Ecuador mit spanischen Untertiteln gezeigt wurde. Er beinhaltete Interviews mit Zeitzeugen oder Nachfahren der rund 4.000 jüdischen Flüchtlinge, die zwischen 1933 und 1945 in das damals in Europa wenig bekannte südamerikanische Land gekommen waren.
Der Physiologe, Mediziner und Schriftsteller Paul Engel jedenfalls machte nach eher entbehrungsreichen Jahren in Kolumbien und einem auch etwas zähen Start in Ecuador zumindest einigermaßen Karriere. Letztlich hielt er sogar Vorlesungen zum Thema Endokrinologie an der Universität Quito. Im Lauf seines Lebens schrieb er Hackl zufolge "achtzehn Romane, drei Erzählbände und Theaterstücke, dazu ein paar Dutzend medizinische Fachartikel, naturwissenschaftliche Abhandlungen und Philosophische Essays".
Als bekennender "Linker" publizierte Paul Engel alias Diego Viga in Zeiten des "Kalten Kriegs" seine Bücher vorwiegend in Verlagen der kommunistischen DDR, wo er im Gegensatz zu Österreich auch eine große Leserschaft erreichte. Auch die einzige Biografie "Diego Viga. Arzt und Schriftsteller" von Dietmar Felden erschien 1987 knapp vor dem Mauerfall in der Deutschen Demokratischen Republik.
Der Roman "Die Parallelen schneiden sich" - oder in der Neuauflage "Die Unpolitischen" - ist zweifellos sehr stark autobiografisch durchtränkt. So spiegeln sich in den zwei Hauptcharakteren - Johannes Kramer und Anna Kally - zweifellos Paul Engel selbst und seine Ehefrau Josefina Monath wider. Der Roman erzählt in vielstimmiger und breit aufgefächerter Weise die Geschichte der Emigration, die Beweggründe dafür und die vielen Gefühlsschwankungen, die mit derart einschneidenden Lebensereignissen einhergehen.
Gewissermaßen ist der Roman auch ein Blick durch ein Zeitfenster. So reist Pauls bzw. Diegos literarisches Alter Ego Johannes zumindest in der ursprünglichen DDR-Version im "Aeroplan" in die ecuadorianische Hauptstadt. Von einem Flughafen moderner Prägung war damals im Andenhochland keine Spur: "Und dann hüpft die Maschine knapp hinter den Bergen, bedenklich nahe am Gebirge über Gras. Denn das Flugfeld von Quito ist bloß ein Stück Weideland, nicht mehr."
In der aktuellen Version wurden einige Ausdrücke der zeitgemäßen "Political Correctness" angepasst. In der ab 1969 verbreiteten Ausgabe schilderte der Autor den Umstand, dass Lateinamerika den Europäern doch recht fremd war, noch folgendermaßen: "Indianer mit roten Ponchos, Indianer mit blauen Ponchos, mit auffallend schön und gut geschnittenen Gesichtszügen und langen schwarzen Zöpfen. Niemals vorher habe ich bezopfte Männer gesehen. (...) Vor zwei Jahren noch war eine Stadt in 2.830 Meter Höhe, eine Stadt mit bezopften und bloßfüßigen Indianern in den Straßen, mit Indianerinnen, die ihren Kindern die Läuse aus den Haaren fangen und sie mit den Zähnen knacken, ein wildes fernes Märchen für mich, obwohl ich doch schon auf diesem absonderlichen und unwahrscheinlichen Kontinent geweilt hatte." In der Ausgabe der Edition Atelier wird auf die weniger verfängliche spanische Variante zurückgegriffen. Statt von "Indianern" ist nunmehr von "Indios" die Rede. Ein durchaus nachvollziehbarer Eingriff, auch wenn dadurch etwas Zeitkolorit verloren geht.
Besonders ergreifend sind indes jene Passagen vor dem Gang in die Emigration, in denen der Autor etwa antisemitische Ausfälle im Alltag Wiens während der austrofaschistischen Dollfuß-Diktatur und dann insbesondere nach dem "Anschluss" an Hitler-Deutschland schildert. Das sind literarische Passagen, die dazu angetan gewesen wären, knapp 30 Jahre nach den Ereignissen die Gesellschaft zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu animieren. Doch war diese Ende der 1960er-Jahre daran offenbar nicht interessiert.
Erich Hackl verweist dazu im Nachwort auf einen Briefwechsel zwischen Paul Engel und dem in Argentinien exilierten Wiener Gynäkologen und Schriftsteller Alfredo Bauer (1924-2016). "Beide fanden vor der Verfolgung durch das Naziregime in Südamerika Zuflucht, beide waren Ärzte, beide verstanden sich, in unterschiedlicher Schattierung und Intensität, als Linke, beide fanden in der DDR ihre verlegerische Heimat", schreibt er. Gemeinsam sei ihnen auch der skeptische Fernblick auf das Heimatland gewesen. "Betreffs Österreich stimme ich sehr mit Ihnen überein", schrieb demnach Engel - der seine Geburtsstadt durchaus hin und wieder besuchte - im Februar 1989 aus Quito an Bauer in Buenos Aires, "ich habe stets den Eindruck, dass sich die Menschen dort viel weniger verändert und entwickelt haben als wir."
Ein bitteres Fazit. So gesehen war es kein Wunder, dass sowohl Engel als auch Bauer lieber im Exil blieben und starben, als nach Österreich zurückzukehren. Dass es nach Engels oder Vigas Tod weitere 25 Jahre dauerte, dass sein Werk reanimiert wurde, bedarf dann auch keines Kommentars mehr.
(S E R V I C E - Diego Viga: "Die Unpolitischen", Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Erich Hackl. Edition Atelier, 696 Seiten, 31 Euro. Die Zitate aus der Romanausgabe mit dem Titel "Die Parallelen schneiden sich" wurden einem Exemplar aus den späten 1970er-Jahren entnommen. Es war in der damaligen DDR im "Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig" erschienen.)
Zusammenfassung
- "Die Unpolitischen" heißt ein Roman, den die Edition Atelier in ihrem Herbstprogramm aus der historischen Versenkung holt.
- Das erscheint mutig, schließlich hatte der fast 700 Seiten dicke Wälzer bereits 1969 unter dem Titel "Die Parallelen schneiden sich" in Österreich keinen Erfolg.
- Diego Viga war das Pseudonym für Paul Engel, den "großen Unbekannten der österreichischen Exilliteratur", wie es Hackl im Nachwort formuliert.