"Der belgische Konsul": Amélie Nothomb über ihren Vater
Eigentlich schreibt die in über 40 Sprachen übersetzte Vielschreiberin nicht über ihren 2020 verstorbenen Vater, sondern lässt ihn selber schreiben. Denn was er erlebt, wird in der Ich-Form geschildert. Der Auftakt ist ebenso furios wie erschreckend. Der 28-Jährige wird vor ein Erschießungskommando geführt, als eine jener Geiseln, um deren Freilassung er seit vier Monaten verhandelt. "Die Zeit dehnt sich. Jede Sekunde dauert hundert Jahre länger als die davor." Zeit also, zurückzublicken - auf jene 28 Jahre, die vermutlich die ganze Lebensspanne gewesen sein werden.
Die Geiselnahme fand 1964 wirklich statt - und sie muss hoch dramatisch gewesen sein. Eine maoistische Rebellenarmee hatte in der Volksrepublik Kongo zahlreiche Geiseln genommen, und Patrick Nothomb versuchte als ebenfalls gefangen genommener belgischer Konsul in Stanleyville alles zu unternehmen, um durch Gespräche Zeit zu gewinnen und weiteres Blutvergießen zu vermeiden. "Premier sang" (Erstes Blut) heißt der Roman im Original, und dieser Titel erschließt sich, als der kaum sechsjährige Patrick das erste Mal ohnmächtig wird, als sein lungenkranker Freund neben ihm Blut spuckt. Der Bub kann kein Blut sehen. Das wird auch dem Erwachsenen bleiben.
Schon nach wenigen Seiten sind wir als Leser nicht mehr im Kongo, sondern in Brüssel und einem kleinen halb verfallenen Schloss in den belgischen Ardennen. Dorthin, zur Familie seines Großvaters väterlicherseits, wird der angeblich verweichlichte Bub in den Ferien geschickt, um abgehärtet zu werden. Tatsächlich sind die Lebensumstände dort eher Überlebensumstände, unter denen nur die Härtesten bestehen. Die verwahrloste Kinderschar, eigentlich alles Onkel und Tanten Patricks, erhält kaum etwas zu essen und ist auf sich allein gestellt. Der Großvater, ein sehr auf seine adelige Abkunft bedachter Baron, widmet sich lieber der brotlosen Dichtkunst als seinem Brotberuf als Rechtsanwalt.
Das schmale Buch widmet sich deutlich länger diesem Überlebenstraining, an dem das zarte Kind bald eigenartigen Gefallen findet, als dem eigentlichen Überleben in der Extremsituation, in die der junge Diplomat gleich bei seinem ersten Auslandseinsatz geriet. In der von seiner Tochter verfassten Selbstschilderung wirkt Patrick Nothomb ziemlich aus der Zeit gefallen - und doch geradezu modern und energisch gegenüber seinem verschrobenen Großvater, der zudem die Hochzeit seines Enkels mit einer seiner Ansicht nach nicht standesgemäßen jungen Frau zu verhindern suchte.
Der Enkel setzt sich durch - und landet schon wenige Buchseiten später wieder in der Gegenwart seiner unmittelbar bevorstehenden Exekution. Die wird von dem zum Präsidenten der Volksrepublik Kongo ernannten Rebellenführer, mit dem sich der Diplomat in vielen Verhandlungsrunden ein wenig angefreundet hat, in letzter Sekunde verhindert. "Haben Sie Kinder, Herr Konsul?", fragt ihn dieser. Zwei, lautet die Antwort. "Wollen Sie noch ein drittes Kind?" - "Das wird von Ihnen abhängen, Herr Präsident." Damit endet das Buch. Aber nicht Patrick Nothombs Leben. Am 24. November 1964 landen belgische Fallschirmjäger in Stanleyville und können einen Großteil der Geiseln befreien. Eineinhalb Jahre später wird das dritte Kind des belgischen Konsuls geboren: Amélie Nothomb.
(S E R V I C E - Amélie Nothomb: "Der belgische Konsul", Aus dem Französischen von Brigitte Große, Diogenes Verlag, 144 Seiten, 23,70 Euro)
Zusammenfassung
- "Premier sang" heißt der Roman im Original, und dieser Titel erschließt sich, als der kaum sechsjährige Patrick das erste Mal ohnmächtig wird, als sein lungenkranker Freund neben ihm Blut spuckt.
- Eineinhalb Jahre später wird das dritte Kind des belgischen Konsuls geboren: Amélie Nothomb.
- (S E R V I C E - Amélie Nothomb: "Der belgische Konsul", Aus dem Französischen von Brigitte Große, Diogenes Verlag, 144 Seiten, 23,70 Euro)