Bihler inszeniert Kafka: Metaphern nicht auflösen
Mit der APA sprach die Regisseurin, die von 2019 bis 2021 Hausregisseurin an der Volksbühne Berlin war, über unaufgelöste Metaphern, nicht durchschaubare Machtstrukturen und das Absprechen von Menschlichkeit. In der kommenden Spielzeit will die Erfolgsregisseurin einen Gang zurückschalten und weniger inszenieren: "Ich möchte mir die Zeit nehmen, um mich selbst wieder mehr zu fragen, worauf ich Lust habe und mir auch wieder mehr andere Inszenierungen ansehen."
APA: Der erste Satz von Kafkas "Verwandlung" ist einer der berühmtesten Sätze der deutschsprachigen Literatur, den wahrscheinlich jeder Schüler - zumindest eine Zeit lang - auswendig aufsagen kann. Worin liegt aus Ihrer Sicht dessen Macht?
Lucia Bihler: Es ist einfach ein sehr, sehr starkes Bild, eine starke Metapher, die Kafka sich da ausgedacht hat. Und er besitzt auch den Mut, sie weiter durchzuziehen und nicht aufzulösen. Das ist natürlich super stark, weil sie für sehr Vieles stehen kann. Und genau das hat mich daran auch interessiert: die Fragen, die diese Metapher aufwirft, nicht zu beantworten zu wollen.
APA: "Die Verwandlung" ist nach "Das Schloss", das Sie 2013 inszeniert haben, und der "Bau" 2017 bereits Ihre dritte Kafka-Arbeit. Was bindet Sie so an ihn?
Bihler: Ganz viel. Es gibt ein paar Themen, die in vielen meiner Arbeiten immer wieder auftauchen. Und auch bei Kafka geht es um Individuen, die sich in gesellschaftlichen Strukturen nicht zurechtfinden oder damit hadern. Aber auch existenzielle Themen wie Entfremdung, Einsamkeit und nicht durchschaubare Machtstrukturen kommen immer wieder vor. Abgesehen davon kann ich mit seiner Literatur wahnsinnig viel anfangen, und ich finde, dass er sehr überraschend mit Themen umgeht und zugleich eine sehr sachliche Sprache verwendet, was eine wahnsinnig tolle Kombination ist. Er beschreibt Vorgänge sehr präzise und zugleich sind es sehr absurde, abgründige und weirde Inhalte.
APA: Haben Sie für Ihre Kafka-Inszenierungen eine eigene Bildsprache entwickelt, oder liegen die Inszenierungen da zu weit auseinander?
Bihler: Nein, das würde mich irgendwie auch gar nicht so interessieren. Ich würde sagen, es gibt eher eine generelle eigene Bildsprache in all meinen Inszenierungen, die natürlich nie ganz die Gleiche ist. Ich arbeite immer mit Überhöhung und Verfremdung, viel nonverbalem Spiel und extremen Figuren, die sehr körperlich sind.
APA: In ihrem bisherigen Regiewerk finden sich viele Roman- oder zumindest Prosa-Dramatisierungen. Ist das eine bewusste Entscheidung, oder interessiert Sie vordergründig einfach nur der Stoff?
Bihler: Prosa zu dramatisieren ist wirklich doppelt so viel Arbeit - egal, wie lang der Text ist (lacht). Was mir dabei aber gefällt ist, dass ich sehr stark eingreifen kann. Ich weiß, das kann ich bei Stücken auch, es ist aber schwieriger.
APA: Würden Sie bei Uraufführungen auch so stark eingreifen?
Bihler: Nein. Deshalb mache ich keine (lacht). Schließlich sollten Uraufführungen das Werk der jeweiligen Autorin zeigen. Ich liebe aber das starke Eingreifen. Ich muss mir Stoffe aneignen und mich wie an einem Steinbruch abarbeiten und die Essenz herausdestillieren. Mich interessiert eben immer sehr die nonverbale Situation. Und das beißt sich einfach ein bisschen bei Uraufführungen.
APA: Sie spielen auch immer stark mit Geschlechterzuschreibungen. Auch in der "Verwandlung"?
Bihler: Ich besetze oft gegen Geschlechterrollen. In diesem Fall wird Gregor von Paulina Alpen gespielt.
APA: Wie werden Sie das Tierische auf der Bildebene umsetzen?
Bihler: Was ich verraten kann ist, dass mich immer interessiert hat, das Menschliche zu suchen. Hier wird Gregor die Menschlichkeit abgesprochen. Also geht es gar nicht so sehr um ein Tier konkret, sondern darum, dass jemand anderer sagt "Du bist kein Mensch mehr", oder er selbst das denkt. Und wir arbeiten damit, wie man das dargestellt bekommt, ohne die Literatur zu schwächen oder das Bild komplett zu beantworten.
Was mich an dem Text so berührt ist, dass die Verwandlung an manchen Stellen sogar eine Art Befreiung ist. Gregor steht unter dem Druck der Gesellschaft, wofür die Familie steht. Und wenn er dann auf der Wand rumläuft merkt er plötzlich, dass er Sachen kann, die sonst niemand kann. Da gibt es ein Empowerment. Diese verschiedenen Aggregatszustände sind für mich total spannend. Und das Publikum geht dann ja vielleicht auch verwandelt raus.
APA: Sie waren in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich, man könnte es fast als Hype bezeichnen. Wie gehen Sie damit um?
Bihler: Also das ist spannend, weil ich nehme das tatsächlich nicht als Hype wahr, ich habe mich einfach über die Jahre hochgearbeitet und bin sehr damit beschäftigt, meinem eigenen Anspruch gerecht zu werden - nicht dem Äußeren. Mein Thema ist eher: Wie entwickle ich mich künstlerisch weiter? Ich will kein Label umgehängt bekommen.
APA: Sie arbeiten immer wieder auch in Wien, neben dem Burgtheater etwa am Schauspielhaus. Ist die Arbeit hier anders als in Deutschland?
Bihler: Für mich ist Wien gerade die spannendste Stadt im deutschsprachigen Raum. Die Menschen sind wahnsinnig offen, es gibt eine irre Liebe für Kunst, und das Theater ist sehr stark in der Gesellschaft verankert. Das finde ich sehr berührend. Auch ist die Stadt sehr divers. Was mich zum Beispiel fasziniert ist der Umstand, dass alte Menschen wirklich sichtbar sind an den öffentlichen Orten. In Berlin sieht man alte Menschen eher in prekären Situationen. In Wien gibt es mehr niederschwellige Orte - wie zum Beispiel Kaffeehäuser -, wo sich alle treffen können. Das finde ich wirklich sehr besonders. Das sehe ich zum Beispiel in Berlin nicht, wo die Generationen stärker voneinander getrennt zu sein scheinen.
APA: Am Burgtheater stehen mit dem Intendantenwechsel im Herbst einige Veränderungen an. Haben Sie schon mit Stefan Bachmann gesprochen, ob Sie weiter am Haus arbeiten werden?
Bihler: Ich glaube, ich darf dazu nichts sagen. Auf jeden Fall habe ich unsere Zusammenarbeit in Köln die letzten Jahre immer sehr geschätzt.
APA: Sie haben zuletzt bis zu drei Inszenierungen pro Jahr gemacht. Ist das nicht sehr viel?
Bihler: Es ist toll, dass Sie das ansprechen, weil ich habe mich dazu entschlossen, nächste Spielzeit weniger zu machen. Ich hatte jetzt nach dem Theatertreffen das Bedürfnis, einen Schritt zurückzugehen und nicht so weiterzuballern. Ich möchte mir die Zeit nehmen, um mich selbst wieder mehr zu fragen, worauf ich Lust habe und mir auch wieder mehr andere Inszenierungen ansehen. Zu gucken, was eigentlich die Generation gerade macht, die zehn Jahre jünger ist als ich. Ich bin jetzt zum Beispiel Mentorin von einer Regiestudierenden in Hamburg, darauf freue ich mich. Und ich habe Lust, neue Sachen zu lernen.
APA: Was zum Beispiel?
Bihler: Ich möchte mich etwa mehr damit beschäftigen, was meine Führungsposition als Regisseurin bedeutet. Das habe ich mir ja ziemlich autodidaktisch beigebracht, das wird nirgendwo wirklich unterrichtet, man wird einfach reingeworfen in diese Machtposition. Das ist in keinem Unternehmen so! Es geht mir hier um Bewusstmachung: Wie leite ich eigentlich und will ich das so? Und ich habe schon das Gefühl, dass derzeit - auch nach MeToo - eine Tendenz da ist, dass immer mehr Menschen am Theater über Führungsprozesse nachdenken. Aber da ist noch sehr viel Luft nach oben.
APA: Ein Thema, das Regisseurinnen wie etwa Sara Ostertag zu Gehör bringen, ist die Unvereinbarkeitsfrage in Bezug auf Familie. Wie stehen Sie dazu?
Bihler: Ich finde, es wird Frauen immer noch sehr schwer gemacht in der Branche. Ich frage mich, wo derzeit die Regisseurinnen ab Mitte 40 sind? Die fehlen mir gerade. Dabei wäre es so einfach, Kinderbetreuung an Theatern anzubieten. Es gibt ja in jedem Bereich am Theater Menschen mit Kindern - nicht nur auf der Bühne.
APA: Andererseits gibt es viele männliche Regisseure Mitte 40, die haben ja vielleicht auch Kinder. Warum können sie arbeiten?
Bihler: Da müssen sie das Patriarchat fragen. Es hat sich strukturell in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert, aber immerhin tut sich auf der diskursiven Ebene gerade was. Und das ist ja immer so: Dass sich immer erst etwas an Strukturen ändert, wenn der Druck groß genug ist. Aber ich finde, es könnte irgendwie schneller gehen. Es gibt zwar Initiativen wie die "Bühnenmütter e.V.". Also es passiert schon was, aber natürlich immer von außen, oder von "unten", aber selten von "oben", also von den Häusern. Auch dafür möchte ich in den kommenden Monaten mehr Zeit finden: Ich habe Lust, mich mehr zu vernetzen und mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Aber jetzt freue ich mich erstmal auf die Premiere im Akademietheater.
(S E R V I C E - "Die Verwandlung" nach Franz Kafka im Akademietheater. Premiere am 20. Jänner, 19.30 Uhr. Mit Paulina Alpen, Stefanie Dvorak, Jonas Hackmann, Dorothee Hartinger und Philipp Hauss. Regie: Lucia Bihler, Bühne: Pia Maria Mackert, Kostüme: Victoria Behr. Weitere Termine am 24. und 27. Jänner sowie am 3. und 10. Februar. www.burgtheater.at)
Zusammenfassung
- Im soeben gestarteten Kafka-Jahr bringt sie mit "Die Verwandlung" eine der bekanntesten Erzählungen des Autors auf die Bühne.
- Premiere ist am Samstag.