Abstrakt: "Erniedrigte und Beleidigte" am Volkstheater Wien
Fünfeinviertel Stunden dauerte der Abend, als sich vor zwanzig Jahren Frank Castorf bei den Wiener Festwochen dem Roman widmete, der Liebes- und Standesprobleme verhandelt. Bei Sascha Hawemann, Sohn des vor zehn Jahren gestorbenen Regisseurs Horst Hawemann, der auch hierzulande - etwa am Jura Soyfer Theater - inszeniert hatte, dauert er "bloß" zwei Stunden und 35 Minuten - allerdings ohne Pause: In die unter mittlerweile überholten Corona-Bedingungen zustande gekommene, verschobene Inszenierung wollte man keine Unterbrechung einbauen. Stattdessen hätte man jedoch den Rotstift ansetzen und auf zwei Stunden runterkürzen sollen.
Dabei hat der Abend durchaus seine Meriten. Er etabliert mit unbestimmten Räumen, in denen weiße Plastikbahnen, aus Neonröhren gebildete Buchstaben des kyrillischen Alphabets oder ein aus Karton gebasteltes und bewohnbares Hohl-Kreuz, das an die Kreuze von Malewitsch erinnern soll, eine abstrakte Deutungsebene (Bühne: Wolf Gutjahr); er integriert mit dem Bulgaren Alexander Xell Dafov einen Musiker ins Geschehen, der an Klavier wie an E-Gitarre gleichermaßen für einen unaufdringlichen, aber stimmungsvollen Sound sorgt; er verzichtet auf jegliche Ingredienzien der klassischen-psychologischen Aufführungstradition russischer Literatur ebenso wie auf die Überforderungs-Ästhetik eines Frank Castorf, der die Zuschauer unter Exaltiertheit und zusätzlichem Assoziationsmaterial zu begraben pflegt.
An sich also keine schlechten Voraussetzungen. Doch beweist sich erneut die alte Theaterweisheit, dass die Bühne erst dann zu leben beginnt, wenn auf ihr Geschichten erzählt werden. Lange Zeit ist die Aufteilung der Dichter-Figur des Wanja auf drei Schauspieler (Frank Genser, Uwe Schmieder und Samouil Stoyanov), das gönnerhafte Auftreten des Fürsten (Andreas Beck) oder die Zerrissenheit seines Sohns Aljoscha (Frank Genser) zwischen der verarmten Natascha (Friederike Tiefenbacher) und der Gräfin Katja (Evi Kehrstephan) vor allem für Literatur-Feinspitze interessant, die ihren Dostojewski abrufbar haben.
Der Rest steigt erst später wirklich ein - wenn er noch Herz und Kraft dafür hat. Diese Zuschauer nimmt dann die 26-jährige Lavinia Nowak quasi an der Hand und lässt sie als 13-jährige, als Waisenkind aufwachsende Fürstentochter Nelly, die sich je nach Bedarf auch als 11 oder 15 ausgeben kann, an ihrem Schicksal teilhaben. Zwischen Kindesmissbrauch und Vatersuche, zwischen weißem Kleid und schwarzer Farbe, Email-Badewanne und Krankenhaus-Bett entsteht da eine Geschichte, die man nicht nur bloß betrachtet, sondern in die man auch emotional einzusteigen vermag.
Rundherum ist es weniger der Großstadtmoloch Sankt Petersburg, der die Menschen prägt, sondern die Fantasie der Dichter-Trias, die mit epileptischen Anfällen (Dostojewski litt selbst darunter) ebenso fertig werden muss wie mit sozialem Elend und eklatanter gesellschaftlicher Ungleichheit. Es sind "Erniedrigte und Beleidigte", aber keine Revolutionäre, die hier agieren. Und wenn am Ende zu den Klängen von Bowies "Space Oddity" mit "Ground Control to Major Tom" der Eiserne Vorhang fällt, weiß man, dass das Volkstheater Wien unter dem neuen Direktor Kay Voges noch nicht wirklich abgehoben hat. Wie das Weltraum-Abenteuer ausgehen wird, steht noch in den Sternen. Die Triebwerke sind jedoch schon mal gezündet und laufen sich warm. Der Schlussapplaus aus dem keineswegs voll besetzten Zuschauerraum war herzlich.
(S E R V I C E - "Erniedrigte und Beleidigte" nach Fjodor M. Dostojewski, Regie: Sascha Hawemann, Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüm: Hildegard Altmeyer, Musik: Xell. Mit: Andreas Beck, Frank Genser, Evi Kehrstephan, Lavinia Nowak, Uwe Schmieder, Samouil Stoyanov, Friederike Tiefenbacher und Xell (Live-Musik). Volkstheater Wien, Nächste Aufführungen: 16. und 24. September, 13., 20. und 21. Oktober, 19.30 Uhr, www.volkstheater.at)
Zusammenfassung
- Wenn Fürst Walkowski und der Schriftsteller Wanja also derlei zur Sprache bringen, dann handelt es sich wohl um eine moderne Bühnen-Bearbeitung des Romans "Erniedrigte und Beleidigte".
- Obwohl: Ganz so übertrieben modern wirkt es gar nicht, was Sascha Hawemann am Volkstheater Wien am Mittwoch in der zweiten großen Premiere der neuen Saison auf die Bühne brachte.
- Dabei hat der Abend durchaus seine Meriten.