Kinderarmut belastet Gesundheit schon im Säuglingsalter
"1,5 Millionen Menschen sind in Österreich armuts- oder ausgrenzungsgefährdet." Darunter seien knapp 350.000 Kinder und Jugendliche, betonte ÖÄK-Sprecher Hans-Peter Petutschnig in Vertretung des erkälteten Kammerpräsidenten Thomas Szekeres bei einer Pressekonferenz in Wien. "Das ist jedes fünfte Kind", erläuterte Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger. Es sei aus Studien unter anderem bekannt, dass Kinder von armutsbetroffenen Eltern ein niedrigeres Geburtsgewicht, eine geringere Körpergröße beim Schuleintritt und öfter Unfälle sowie chronische Krankheiten erleiden.
86 Prozent der Ärzte bestätigen in der aktuellen Umfrage von ÖÄK und Volkshilfe, dass armutsbetroffene Kinder auch ihrer Einschätzung nach öfter krank sind. "Die Benachteiligung findet mit dem ersten Atemzug statt", sagte Fenninger. Der schlechtere Gesundheitszustand im Säuglings- und Kleinkindalter zeige sich vor allem im sprachlichen Bereich, bei der Zahngesundheit und im motorischen Bereich. Das geht aus den Antworten der 448 teilnehmenden Ärzte der in Wien, Niederösterreich, Salzburg, Kärnten, Vorarlberg und dem Burgenland unter Medizinern durchgeführten Umfrage hervor.
41 Prozent der Umfrageteilnehmer beobachten bei Kindern aus armutsgefährdeten Familien häufig psychosomatische Symptome. Fenninger verwies auch auf Mobbing und Stress. "Stress erzeugt Angst und gesundheitliche Probleme", sagte er. Außerdem gaben die Mediziner an, dass die betroffenen Kinder häufiger unter Bewegungsmangel leiden. Psyche und Bewegung haben durch die Pandemie bei ärmeren Kindern noch stärker gelitten, berichten die Ärzte aus ihrer Praxis.
Für eine bessere Absicherung des Gesundheitszustands von armutsbetroffenen Kindern forderten die Mediziner vor allem kostenlose Therapien für Kinder bei medizinischer Notwendigkeit. Außerdem sollten Maßnahmen zur Mund- und Zahngesundheit gratis sein und die Krankenkassenplätze für Psychotherapie erweitert werden. 76 Prozent der Befragten sagen auch, dass es eine starke finanzielle Absicherung von Kindern und Jugendlichen braucht, um gesundheitliche Ungleichheit auszugleichen.
Es ist "Zeit zu handeln", damit die armutsbetroffenen Kinder "nicht die erkrankten und früh sterbenden" Menschen im Erwachsenenalter sind, betonte der Volkshilfe-Direktor. Die Regierung rühme sich mit ihrem Steuerentlastungspaket. Er wolle dieses nicht bewerten, aber warum gelinge es nicht, aus der Fachexpertise von Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern etwas für die Kinder- und Jugendgesundheit zu tun, fragte Fenninger. "Jetzt liegt es an der Politik zu handeln - und wenn sie es nicht tun, werden wir ihnen einheizen."
"Die Ergebnisse der präsentierten Umfrage sind erschreckend. Gesundheit darf in Österreich keine Frage von Wohlstand sein", reagierte Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) in einem Statement gegenüber der APA. "Die Bundesregierung hat vor drei Wochen das 'Programm Kinderchancen' ins Leben gerufen, das neben vielen weiteren wichtigen Punkten auch eine wohnortnahe und hochwertige Gesundheitsversorgung zum Ziel hat. Im Verhältnis funktioniert in Österreich für Kinder schon vieles, aber es gibt auch viel Verbesserungspotenzial." Alle Kinder müssten "im wohlhabenden Österreich gerechte Chancen haben", betonte Mückstein, der auch Mediziner ist.
Von 2010 bis 2020 ist die Zahl der niedergelassenen Kassenärzte in Wien von 1.745 auf 1.565 zurückgegangen, berichtete Petutschnig. Gleichzeitig sei die Bevölkerung in der Bundeshauptstadt um 200.000 Menschen gewachsen. Auch bei den Kassenkinderärzten gibt es einen "deutlichen Schwund". Wenn sich der Trend zu einem Wahlarztsystem verstärkt, dann werde unser solidarisch aufgebautes Gesundheitssystem ausgehöhlt. Wahlärzte stehen armutsbetroffenen Familien meist nicht zur Verfügung, warnte der Ärztekammer-Sprecher.
Unterdessen forderte pro mente Austria, der Dachverband von 24 Organisationen im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich, von der Bundesregierung die Sicherstellung der psychischen und sozialen Versorgung der Bevölkerung. Dafür sollten schnellstmöglich ausreichend Geldmittel bereitgestellt werden. Durch die Corona-Pandemie sei der Bedarf an Beratung und Betreuung auf psychiatrischer, psychotherapeutischer, psychologischer und Sozialarbeits-Ebene massiv gestiegen. Jede zweite Österreicherin und jeder zweite Österreicher kämpfe mit psychischen Problemen, hieß es in einer Aussendung.
Zusammenfassung
- Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche sind über ihr gesamtes Leben öfter krank und haben eine um fünf bis acht Jahre verkürzte Lebenserwartung.
- Dieser schlechtere Gesundheitszustand zeigt sich schon im Säuglings- und Kleinkindalter, sagen nun sechs von zehn Ärztinnen und Ärzten in Österreich.
- Alle Kinder müssten "im wohlhabenden Österreich gerechte Chancen haben", betonte Mückstein, der auch Mediziner ist.