Heimat der Heimatlosen: Gewalt und Elend auf der Balkanroute
Yamin stützt sich auf eine in die Jahre gekommene Krücke. Er hat nur eine davon, hinkt und wackelt beim Gehen. Als er seine Hose vorsichtig runterzieht, muss er sich bei einem Freund abstützen.
Auf seinem Oberschenkel sind drei frisch genähte Wunden. Die Haut rundum ist noch rot vom Desinfektionsmittel, zu selten bekommt er die Möglichkeit, sie zu reinigen.
"Das war die ungarische Grenzpolizei", sagt er.
Beim Versuch, über die Grenze von Serbien in die EU, zu kommen, sei er von einem Auto angefahren worden. Die Grenzbeamten hätten ihn dann gefunden und geschlagen, ihm Verletzungen zugefügt. Sein Auge ist blutunterlaufen, die Augenbraue darüber geschwollen und blau.
Endstation Balkanroute
Yamin lebt derzeit in einem der zahlreichen inoffiziellen Flüchtlingscamps entlang der EU-Außengrenze. Für so viele die vorläufige Endstation der verschiedenen Balkanrouten.
Die Schutzsuchenden nennen das Camp "Heimat für Heimatlose". "Al Kharaba" auf Arabisch, was auch mit "Ruinen" übersetzt werden kann.
Beides trifft auf diesen Ort im Dreiländereck zwischen Ungarn, Kroatien und Serbien, nahe der Kleinstadt Sombor, zu. Hier, auf der serbischen Seite, auf einem heruntergekommenen, ehemaligen Fabriksgelände, in dem schon seit Jahren nichts mehr produziert wird, leben derzeit rund 100 Schutzsuchende.
Die Wunden, die Yamin davontrug, wurden in Serbien behandelt. Nicht in Ungarn. Die Beamten sollen den Syrer wieder über die Grenze zurückgeschickt haben. Die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, sei ihm in Ungarn nicht gegeben worden.
Zurück in Serbien lief er durch den Wald, so erzählt er, bis er eine Straße und ein Taxi fand. Im Spital wollte man ihn nicht lange behalten. Seine Dokumente würden hier nur für die nötigsten Behandlungen reichen.
Dennoch will Yamin es wieder probieren, in die EU zu kommen. Deutschland sei sein Ziel, sagt er. Dort habe er Freunde.
Um sein Ziel zu erreichen, muss er allerdings laufen können. Es gibt für ihn keine andere Möglichkeit, als die Grenze in der Nacht zu überqueren, über den ungarischen Grenzzaun zu klettern und zu hoffen, dass ihn Polizei oder Militär nicht wieder erwischen.
Wie lange es dauert, bis seine Wunden verheilt sind, kann er noch nicht sagen. Ob sie überhaupt verheilen, ohne sich zu entzünden, ist wegen der hygienischen Bedingungen in "Al Kharaba" fraglich.
"Keine Menschenrechte"
Die meisten Menschen, die PULS 24 in dem Camp an der nordserbischen Grenze antraf, kommen wie Yamin aus Syrien, wenige aus Marokko oder Eritrea. 40 Prozent der Migranten, die sich im Oktober in Serbien aufhielten, kamen laut dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) aus Afghanistan, 29 Prozent aus Syrien und zehn Prozent aus Marokko.
Sie lebten hier "wie im Dschungel" , so sagt es Abdurahman, ein junger Mann, ebenfalls aus Syrien. Nicht einmal Tiere würde man hier eigentlich halten wollen. Es gebe hier, an dem Ort, den er über TikTok fand, "keine Menschenrechte".
Die leeren Fabriksgebäude haben eingeschlagene Fenster, die Türen fehlen. Die offenen Stellen werden mit Plastikplanen und Pressspanplatten nur provisorisch zugemacht. Selbst bei Minustemperaturen schlafen darin Menschen, auch Frauen und Kinder.
Geheizt wird, wenn überhaupt, mit Feuer in Tonnen aus Blech. Selbstgebastelte Rohrsysteme leiten nur einen Teil des Rauchs nach draußen. Fließendes Wasser oder gar Toiletten gibt es nicht. Der Strom geht nur ab und zu, er wird von umliegenden Leitungen abgezweigt.
Nachts startet das "Game"
Kinder spielen zwischen Haufen aus leeren Energydrink-Dosen und Plastiksäcken Fußball mit Plastikflaschen. Mülltonnen gibt es nicht. Selten ist jemand lange genug in dem Camp, um sich des Problems anzunehmen.
Die Menschen schlafen auf dem Boden oder auf dünnen Schaumstoffmatten zwischen Müll und Fäkalien. Viele von ihnen schlafen am Tag, denn in der Nacht nehmen sie am "Game" teil. So nennen sie das gefährliche "Spiel", über den Stacheldraht in die EU zu gelangen.
Ungarn ist stolz auf seinen Zaun
Der etwa vier Meter hohe Zaun, auf den man in Ungarn so stolz ist, dass man ihn an der Grenze zu Serbien wartenden Autofahrern sogar in einem Werbevideo präsentiert, wurde über den Sommer weiter ausgebaut.
Der rechtsnationale Ministerpräsident Viktor Orbán rief ein Regiment an "Grenzjägern" ins Leben. Die Einheit soll aus mehreren Tausend Beamten bestehen und Polizei und Militär an der Grenze unterstützen.
Wie brutal die Beamten dort vorgehen, bekam nicht nur Yamin zu spüren. Was der Syrer schildert, klingt nach einem sogenannten illegalen Pushback. Also Zurückweisungen direkt an der Grenze, die in der Regel gegen EU-Recht und die Menschenrechte verstoßen, aber keine Seltenheit sind.
In einem Bericht mehrerer Nichtregierungsorganisationen, die an Serbiens Nordgrenze tätig sind, heißt es, dass die Zahl der verletzten Flüchtlinge zunehme. Die Rede ist von Knochenbrüchen und Hämatomen, von Tritten mit Stiefeln, Schlägen mit Gürteln und dem Einsatz von Rasiermessern, Pfefferspray und Gummigeschossen. Unterzeichnet wurde der Bericht unter anderem von Ärzte ohne Grenzen und HCIT, einer serbischen Partnerorganisation des UNHCR.
In den Jahren 2020 und 2021 dokumentierte HCIT 911 Berichte von Schutzsuchenden über Pushbacks von Ungarn nach Serbien. Am häufigsten (56 Prozent) waren Syrer betroffen, es folgen Afghanen (20 Prozent) und Marokkaner (sechs Prozent).
Österreichische Polizei unterstützt Ungarn
"Den Menschen wird das Recht genommen, ihren Fall vorzubringen und um Asyl anzusuchen", sagt Nikola Popović, Anwalt bei HCIT, im Gespräch mit PULS 24. Dazu kämen physische und psychische Misshandlungen. Das ungarische Innenministerium übermittelt, von PULS 24 mit den Vorwürfen konfrontiert, eine allgemeine Stellungnahme: Die Vorwürfe würden "erneut darauf abzielen, das Grenzpersonal zu diskreditieren". Man weise diese zurück. Man habe als eines der ersten Länder EU-Grenzen "geschützt" und halte sich dabei an EU- und ungarische Gesetze.
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch des Europäischen Gerichtshofs sprechen eine andere Sprache. Sogar die viel kritisierte europäische Grenzschutzagentur Frontex hat sich deswegen 2021 aus dem Land zurückgezogen.
Nur Österreich sagte Ungarn im Sommer mehr Polizisten zu. Von den Vorwürfen gegen die ungarischen Grenzbehörden bekämen die österreichischen Beamten nichts mit, behauptet man im Innenministerium. Die 70 Beamten aus Österreich würden vor allem "im Hinterland" im Einsatz gegen "illegal Eingereiste und Schlepper" arbeiten. Fremdenpolizeiliche Amtshandlungen inklusive Zurückschiebungen an der Grenze sollen nur ungarische Beamte durchführen.
Balkanroute: Gefangen vor den Toren der EU
Auch PULS 24 Reporterin Aida Mujanovic berichtet in einer ausführlichen Reportage von der serbischen Nordgrenze.
Sollten österreichische Polizisten illegales Verhalten der ungarischen Behörden feststellen, müssten diese das "selbstverständlich" melden, heißt es aus dem Innenministerium. Bisher habe es solche Meldungen noch nicht gegeben.
Nehammer, Orbán, Vučić gegen Migration
Generell sehen Kanzler Karl Nehammer und Innenminister Gerhard Karner (beide ÖVP) in Ungarn und Serbien wichtige Partner, wenn es um den Kampf gegen "illegale Migration" geht. Österreich unterstützt Ungarn bei der Ausbildung seiner "Grenzjäger". Erst Ende November unterzeichneten Nehammer, Orbán und der serbische Präsident Aleksandar Vučić in Belgrad ein Memorandum. Das Ziel: Mehr Abschiebungen aus Serbien, Visa-Beschränkungen und noch mehr Grenzschutz.
Die Situation von Abdurahman im "Dschungel" wird sich dadurch nicht ändern. Auch er will eines Tages am "Game" teilnehmen. Zwei Wochen harrt er schon in "Al Kharaba" aus. Drei Monate ist es her, dass er sein sieben Monate altes Kind und seine Frau in Syrien zurückließ. Der Krieg dort dauert an, das Land sei "zerstört", sagt er. Er wolle nun "in Europa wie ein Mensch leben".
Bisher fehlen Abdurahman aber die 500 Euro, die er für ein "Taxi" - also einen Schlepper - brauche. Sollte er es über den Zaun schaffen, würde es ihn in Ungarn abholen und in die Slowakei bringen, sagt er.
Wie er das Geld auftreiben will, weiß er noch nicht. Es könnte noch ein bis zwei Monate dauern oder auch ein Jahr. Einen legalen Weg in die EU gibt es für ihn nicht. Weiter kommt in dem System nur, wer sich einen Schlepper leisten kann.
Kein Platz
In ein offizielles Camp, das von der serbischen Regierung betrieben wird, will er - wie die meisten hier - nicht. Auf einem Meter würden dort drei Menschen schlafen, sagt er. Tatsächlich berichten gegenüber PULS 24 mehrere Nichtregierungsorganisationen von überfüllten Quartieren, schlechter Versorgung und sogar von Krätze, die dort umgehen würde.
So genau weiß das aber kaum jemand. Die Regierung ermöglicht den wenigsten Organisationen regelmäßig Zugang zu den offiziellen Camps. Auf eine entsprechende Anfrage erhielt PULS 24 keine Antwort. Vor Ort sorgt ein unfreundlicher Polizist dafür, dass Journalist:innen das Gelände nicht betreten.
Flüchtlinge schlafen in Zelten
Dort bei der nordserbischen Stadt Subotica, vor einem der offiziellen Camps, nicht ganz eine Autostunde von Sombor entfernt, sitzen vier Männer aus Punjab, Indien. Sie wärmen sich die Hände an einem kleinen Feuer, das sie auf der Erde gemacht haben. Die Nacht sei kalt gewesen, sagen sie.
Im offiziellen Camp gibt es neben kleinen Bungalows Zelte, in denen Schutzsuchende schlafen. Platz gibt es für rund 160 Personen, ein Afghane spricht von 250 Menschen. Ein Palästinenser sagt, er habe schon aufgehört zu zählen. Im Sommer seien hier schon an die 500 Schutzsuchende untergekommen, berichtet Nikola Popović, Ende Oktober waren es laut UNHCR 332.
Nach Subotica, wo die Schutzsuchenden Essen besorgen können, müssen sie mit Taxis fahren. Das Camp liegt inmitten von Feldern, rund 3,5 Kilometer vom Zentrum entfernt. Der Spielplatz in der Mitte bleibt ungenutzt - hier wohnen nur Männer. Offenbar bevorzugen sogar Familien die inoffiziellen Camps.
Im Sommer, so sagt Popović, schlafen Menschen auch in leeren Bahnwaggons und in Parks. Auch jetzt im Winter gebe es inoffizielle Zeltlager in den Wäldern.
Kein Asyl in Serbien
In Serbien selbst wollen die wenigsten Asyl beantragen. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Viele Schutzsuchende haben bereits Freunde oder Familie in EU-Ländern und viele erhoffen sich dort ein faireres Verfahren. Nur 175 Menschen stellten im Jahr 2021 laut UNHCR Asylanträge in Serbien. 76 Prozent wurden abgelehnt.
Außerdem, so schildern es mehrere Nichtregierungsorganisationen, sei es gar nicht so einfach, in Serbien einen Antrag zu stellen. In Nordserbien würden lokale Polizeistellen keine annehmen, obwohl sie müssten. Asylsuchende müssten den weiten Weg nach Belgrad auf sich nehmen. Die EU-Grenze ist da ein viel näheres Ziel.
So auch für einen jungen Mann, der den weiten Weg aus Eritrea, einer Diktatur, wo seine Familie in Gefahr sei, kam. Seit 16 Tagen ist er nun in der "Heimat der Heimatlosen" gestrandet, wo er an der Wand der alten Fabrik lehnt und raucht. Seine Hände sind schon gelb von den Zigaretten. Er starrt abwechselnd in sein Handy und auf einen Haufen halbverbrannten Müll vor ihm. Zu tun gibt es hier nicht viel.
Sechsmal habe er nun schon versucht, nach Ungarn zu kommen, sechsmal sei er zurückgeschickt worden. "Ungarn ist nicht wie Europa", sagt er.
Sein Ziel ist Österreich, dort kenne er jemanden. "Ich liebe dieses Land", weiß er, ohne jemals dort gewesen zu sein. Ob er irgendwann ankommt, ist ungewiss.
Zusammenfassung
- An der Endstation der Balkanroute, vor Ungarns Stacheldrahtzaun, zeigen sich die Auswirkungen eines rigorosen Grenzregimes.
- Schutzsuchende leben hier unter menschenunwürdigen Bedingungen, sie sind Gewalt und Schleppern ausgesetzt.
- Eine PULS 24 Reportage von der serbischen Nordgrenze.