Galtür: Vor 25 Jahren kam der "Weiße Tod"
Von sich auftürmenden Felswänden und Hängen flankiert liegt das Dorf Galtür tief im Tiroler Paznauntal. Heute präsentiert es sich beschaulich und touristisch zugleich. Pensionen reihen sich entlang der Hauptstraße an Hotels. Touristen schultern ihre Ski und warten auf Transport in die nahe gelegenen Skigebiete. Kaum etwas erinnert an die Katastrophe, die im Februar 1999 über das Dorf hereinbrach und letztlich 38 Menschen das Leben kostete: Das Lawinenunglück von Galtür.
"Auf einmal haben wir gespürt: Es ist etwas anders"
Auch ein Vierteljahrhundert später sind die Ereignisse in der Erinnerung des damaligen Bürgermeisters und heutigen Tiroler Landeshauptmannes Anton Mattle (ÖVP) indes bis in kleinste Details präsent. Nicht nur die Stunden des Lawinenabgangs, auch die verhängnisvollen Tage zuvor. Durch die Straßensperren habe sich ein gewisser "Druck" aufgebaut, erinnert sich Mattle im APA-Gespräch. "Auf einmal haben wir gespürt: Es ist etwas anders", erzählt Mattle. Angst vor einem Lagerkoller habe er dennoch nicht gehabt. Vielmehr sei man bereits zuvor "zusammengewachsen". "Die Gäste haben sich mit uns solidarisiert", erinnert sich Mattle: "Hätte es das gute Miteinander mit den Gästen nicht gegeben, wäre es viel schwieriger gewesen."
Bilder der Verwüstung
Mattle sitzt an einem Tisch im "Alpinarium", dem nach der Katastrophe errichteten örtlichen Museum - einem Dokumentationszentrum über den Lebens- und Kulturraum hochalpiner Regionen. Dass dem heutigen Landeshauptmann die Ereignisse um den 23. Februar noch immer nahe gehen, spürt man spätestens, wenn der Lawinenabgang selbst zur Sprache kommt. "Von einem auf den anderen Moment ist es Nacht geworden", erzählt der damalige Ortschef. Er lief sofort aus dem Gemeindezentrum ins Freie. "Mir sind völlig weiß angestaubte Menschen entgegengekommen – nach ihren Lieben schreiend", fasst Mattle das auch heute noch Unfassbare in Worte: "Irgendjemand hat dann die Sirene gedrückt, aber es hat wohl kaum jemand gehört". Der Wind brauste damals mit 80 km/h durchs Dorf.
Verzweifelte Suche nach Verschütteten
Bis tief in die Nacht suchte man daraufhin nach Verschütteten. Ohne Hilfe von außen - die Hubschrauber konnten aufgrund des Wetters nicht abheben. Hilflos war man in Galtür dennoch nicht: "Es gibt eine starke Bergrettung in Galtür, eine starke Feuerwehr", erklärt der Landeshauptmann. Etwa 80 professionelle Kräfte waren im Einsatz, unterstützt von rund 200 Gästen. Darunter auch Ärzte, die sich zuvor gemeldet hatten. Bis 4.00 Uhr Früh suchte man nach Vermissten: "Dann waren alle völlig erschöpft." In der Früh kamen dann erste Hilfsmannschaften per Hubschrauber ins Tal, schlussendlich kam es zu einer internationalen Hilfsaktion mit Beteiligung der NATO.
Die Lawinenkatastrophe schrieb daraufhin weltweit Schlagzeilen. "Wir haben lange damit zu kämpfen gehabt, unser Image und unser Bild nach außen in ein besseres Licht zu bekommen", erzählt der damalige Tourismusdirektor Gerhard Walter. Dass die Katastrophe heute noch abschreckend auf Urlauber wirken könnte, glaubt er nicht. Das bestätigen auch Gespräche mit Touristen im Ort. "Ich fühle mich nicht unsicher", sagt etwa Myriam Caspart, die mit der gesamten Großfamilie heuer zum Skifahren in Galtür zur Besuch ist, und verweist auf die vielen Lawinenschutzvorkehrungen: "Man sieht, wie viel getan wurde." Mit Blick auf die Berge sorge sie mit Blick in die Zukunft eher die dünne Schneelage. "Wie lange wird Skifahren noch möglich sein?", fragt die Deutsche.
Gäste: "Unsicher fühlen wir uns jedenfalls nicht"
Auch Ursula Homberger urlaubt seit Jahren in der Region und war auch im Unglückswinter 1999 in Tirol - damals in Ischgl - zu Gast. "Wir haben uns damals auch gefragt, ob wir noch nach Hause kommen", sagt sie Bezug nehmend auf die tagelang gesperrten Straßen im Tal. Die Schrecken des Lawinenunglücks seien insofern präsent, als auch die Enkeltochter noch ins Alpinarium geführt werden soll, um sich einen Eindruck davon machen zu können. "Unsicher fühlen wir uns jedenfalls nicht", teilte Homberger wohl die Meinung vieler Urlaubsgäste.
Video: Lawinengefahr: Was hat sich in den letzten Jahren verbessert?
"Redet sonst nicht viel darüber"
Auch bei Einheimischen ist die Katastrophe kaum noch Thema, berichtet ein Wahl-Galtürer. "Man geht ins Alpinarium und besucht die Gedenkstätte bei der Kirche, aber redet sonst nicht viel darüber", so der Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Die Schwere der damaligen Ereignisse sei aber selbstverständlich bekannt. "Man kommt immer wieder darauf zu sprechen, aber meist ist es kein Thema mehr", bestätigt auch der amtierende Bürgermeister Hermann Huber. Darauf angesprochen werde man im Ort nicht gerne, immerhin seien die Einwohner eine Zeit lang regelrecht mit Fragen "bombardiert" worden. Als eine Seniorin in der zentralen Bäckerei nach Informationen zum Lawinenunglück fragt, wird sie diese Einschätzung bestätigend freundlich, aber bestimmt, direkt an das Alpinarium verwiesen. Das passiere "täglich", erzählt die Angestellte auf Nachfrage. Persönlich belastend sei das Unglück für sie jedoch nicht mehr.
Video: Lawinengefahr im Alpenraum: Wann wird es gefährlich?
Opfer "fehlen im Dorf"
Um hierher zu kommen, war jahrelange Aufarbeitung nötig. "Manche Dinge kann man sich nicht aussuchen. Sie passieren. Und man muss schauen, wie man damit umgehen kann", blickt Walter zurück. Heute gebe es Kriseninterventionsteams, die eine erste Hilfe böten. 1999 habe es diese noch nicht gegeben. "Die Galtürer haben unterschiedliche Wege gefunden, mit der Traumatisierung umzugehen", meint Mattle: "Das aufeinander Zugehen hat vielleicht auch dabei geholfen, eine gewisse Distanz zu finden." Ihm selbst habe geholfen, darüber zu sprechen - und tue es auch weiterhin. Auch aktiv Kontakt zu Hinterbliebenen zu suchen, sei wichtig gewesen: "Um nicht davon erdrückt zu werden." Die Opfer werde man jedenfalls nicht vergessen, meint Huber: "Sie fehlen im Dorf."
Mit dem Lawinenabgang verbunden zu werden, wird Galtür indes erhalten bleiben. Geblieben ist laut Mattle neben stärkerem Engagement bei Bergrettung und Feuerwehr auch eine "große Demut gegenüber der Natur", die man auch an die jüngere Generation weitergeben wolle: "An Orten, die so exponiert sind wie unsere Gemeinde, ist die Natur immer die Stärkere." Weitergeben wolle man jedoch auch die Freude am Schnee. "Wenn es allerdings einmal wieder sehr viel schneit, dann schauen wir schon sehr verantwortungsbewusst auf die Berge."
Als Mahnmal für die damaligen Ereignisse bleibt neben einem Raum des Gedenkens im Alpinarium auch ein eisernes Kunstwerk im örtlichen Friedhof bestehen. Eingraviert die Namen der Menschen, die im Februar 1999 ihr Leben im Schnee verloren hatten. Die Form erinnert an ein zerrissenes Buch. "Weil auch Familien auseinandergerissen wurden", schildert Mattle. Und auch wenn die Lawinenkatastrophe heute kein alltägliches Thema mehr sei: "Am 23. Februar um 16.00 Uhr werden viele Galtürer innehalten." Weil ein zerrissenes Buch nie ganz geschlossen werden kann.
Zusammenfassung
- Am 23. Februar 1999 forderte eine Lawinenkatastrophe in Galtür, Tirol, 38 Menschenleben.
- Anton Mattle, damals Bürgermeister und heute Landeshauptmann, erinnert sich genau an das Unglück und die Dunkelheit, die über das Dorf hereinbrach.
- Eine nächtliche Suchaktion von Einheimischen und Gästen, darunter Ärzte, ohne Unterstützung von außen, ging der internationalen Hilfsaktion voraus.
- Trotz der Tragödie von damals fühlen sich Urlauber heute sicher, was sie auf die umfangreichen Lawinenschutzmaßnahmen zurückführen.
- Das Alpinarium in Galtür dient als Mahnmal und Dokumentationszentrum, das an die Opfer erinnert und die Bedeutung der Naturgewalten vermittelt.