England empfängt Deutschland zum großen Klassiker
Es scheint, als läge seit dem gewonnenen WM-Finale 1966 ein "Wembley-Fluch" auf englischen Partien gegen Deutschland. Neunmal kam es seit 1966 in London zu diesem Klassiker. Siebenmal verließen die Gastgeber ihre Arena mit hängenden Köpfen. Der einzige Heimsieg war das 2:0 am 12. März 1975 - in einem bedeutungslosen Testspiel.
Hinzu kommt, dass die Deutschen den Engländern bei Großturnieren das Fürchten lehrten. Die jüngsten vier K.o.-Duelle gingen an "The Germans". In Zeit ausgedrückt bedeutet das: Seit 55 Jahren hat England bei großen Turnieren jedes dieser Alles-oder-Nichts-Spiele gegen den Erzrivalen verloren.
Je näher die Partie rückt, desto rauer und hektischer wird der Ton auf der Insel. Die Gazetten drucken "Listen der Erniedrigungen" gegen Deutschland ab und erinnern dabei etwa an das verlorene Elfmeterschießen im WM-Halbfinale 1990 oder im EM-Halbfinale 1996, als Englands heutiger Coach Gareth Southgate gegen Deutschlands Tormann Andreas Köpke die Nerven versagten. Oder an das WM-Achtelfinale 2010, als ein Schuss von Frank Lampard von der Unterkante der Latte klar hinter der Torlinie aufkam - nur der Schiedsrichter sah es nicht. Am Ende gewann Deutschland 4:1.
Der schwarzen Serie soll nun ein Ende gesetzt werden. "Diese Mannschaft kann mit diesem Spiel Geschichte schreiben und den Menschen für die Zukunft Erinnerungen an Duelle zwischen Deutschland und England mitgeben, die anders sind als die, mit denen sie in den letzten Tagen überflutet worden sind", sagte Southgate.
Im Team wird die Historie kleingehalten. Die aufgezählten Niederlagen hätten "überhaupt keine Bedeutung, weil sie da noch nicht mal geboren waren", sagte Southgate. "Ich war erst elf, als das Tor von Lampard nicht gegeben wurde. Das ist meine Haupterinnerung an die Geschichte zwischen England und Deutschland", bekundete Declan Rice.
Für Mittelfeldspieler Kalvin Phillips zählt nur das Hier und Jetzt. "Ob wir vor Jahren gegen Deutschland mal gut oder schlecht waren, spielt keine Rolle. Es geht darum, wie wir am Dienstag spielen", sagte der Mann von Leeds United. Kapitän Harry Kane betonte, man habe "viele Spieler mit großem Selbstbewusstsein".
Ob Kane damit auch sich selbst meinte, ist nicht überliefert. Tatsächlich wird einiges vom 34-fachen Länderspieltorschützen abhängen, der gegen die Deutschen seinen ersten Turniertreffer erzielen will. Liverpools Jordan Henderson soll fit genug für seinen ersten Turnier-Startelf-Einsatz sein. Ansonsten dürfte Southgate vor allem defensiv nicht viel verändern: Denn die Engländer sind bei der EM noch ohne Gegentor - und das soll auch gegen Deutschland so bleiben.
Weiter offen ist der Einsatz von Offensivakteur Mason Mount, der sich wie auch Ersatz-Linksverteidiger Ben Chilwell aufgrund ihrer Isolation wegen des Kontakts zum coronapositiven Schotten Billy Gilmour bis Montagmitternacht nicht mit dem Team trainieren durfte. "Es ist wirklich kompliziert. Sie mussten die ganze Zeit in abgetrennten Räumen und bei den Taktikbesprechungen über Zoom mit uns verbunden sein", sagte Southgate.
Dass die Engländer ihre eigene Geschichte am Dienstag tatsächlich ausblenden können, glaubt Thomas Müller nicht. "Die Engländer versuchen, sich ein bisschen Selbstbewusstsein einzureden", mutmaßte der wiedergenese und immer noch nach seinem ersten EM-Tor überhaupt suchende Offensivspieler von Bayern München. Das hinderte den 31-Jährigen nicht daran hinzuzufügen: "Wir wollen natürlich immer wieder in diese englische Turnierwunde reinstechen."
Doch auch auf der Gegenseite werden unrühmliche Serien betont, die noch dazu viel aktueller sind. Etwa, dass die Mannschaft von Joachim Löw mittlerweile bei sieben Turnierspielen in Serie 0:1 in Rückstand geraten ist. Ein damit konfrontierter Manuel Neuer meinte im "Kicker": "Für mich hört sich das alles etwas negativ an, wie wir hier gerade nach dem Einzug ins Achtelfinale und vor einem Duell mit England sprechen. Für mich ist das bisher kein schlechtes Turnier von uns." Der Goalie forderte: "Jetzt entscheidet jede Kleinigkeit, da müssen wir hellwach sein. Eine stabile Defensive ist jetzt elementar wichtig für unser Spiel."
Verlockend ist der weitere Turnierpfad. Die Niederlande sind ausgeschieden, der Viertelfinal-Gegner heißt Schweden oder Ukraine, danach Tschechien oder Dänemark im Halbfinale. Der ganz große Name würde erst wieder im Finale lauern.
Vorerst aber heißt es: Weiterer Wundbrand oder -Heilung? Löw-Abschied oder nächster Wembley-Ruhm? Der emotionale Klassiker ist angerichtet. "Das sind zwei große Fußball-Nationen, das wird hoffentlich ein Leckerbissen", sagte Müller. Beide Teams werden sich als Zeichen gegen Rassismus vor der Partie hinknien, zudem werden mit Neuer und Kane die beiden Kapitäne eine Regenbogenbinde als Zeichen für Toleranz und Vielfalt am Arm tragen.
Zusammenfassung
- Schon im Achtelfinale der EM 2021 wird die Chronik des Fußball-Klassikers England gegen Deutschland um ein Kapitel reicher.
- Den Blick in die Geschichtsbücher fürchten vor dem prestigeträchtigen Duell in der Fußball-Kathedrale namens Wembley-Stadion am Dienstag vor allem die Männer von der Insel.
- Seit 1975 haben die "Three Lions" nämlich kein Heimspiel mehr gegen das deutsche Nationalteam gewonnen.
- Im Team wird die Historie kleingehalten.