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Schüssel: Auf europäische Verteidigung vorbereiten

Der frühere Bundeskanzler, Wirtschafts- und Außenminister Wolfgang Schüssel (ÖVP) plädiert dafür, Österreichs Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der Europäischen Union zu stärken. Dass Russland unter Kremlchef Wladimir Putin eine Bedrohung darstelle, "hat jeder verstanden", sagte Schüssel im APA-Interview anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums des EU-Beitritts. "Es ist auch für uns ein Weckruf, dass wir uns nicht nur auf dem Ruhebett der Neutralität gemütlich zurücklehnen dürfen."

"Wir müssen uns für diese europäisch entstehende Verteidigungsdimension vorbereiten", so Schüssel. "Das ist auch in den Verträgen drinnen, denen wir zugestimmt haben. Wo ein EU-Mandat drauf ist, sind wir auch bereit und in der Lage, verfassungsrechtlich mitzutun. Und das müssen wir auch tun. Auch im Austausch der Informationen und in der Zusammenarbeit der Geheimdienste. Das ist lebenswichtig für uns, wenn wir die Sicherheit unserer Bürger bewahren wollen."

In den EU-Staaten müsse jetzt die Nachrüstung und Aufwertung der eigenen Verteidigungskapazitäten passieren, sagte Schüssel. Der Ex-Kanzler begrüßt, dass es in der neuen EU-Kommission mit Andrius Kubilius erstmals einen EU-Verteidigungskommissar gibt. "Da gibt es viele sinnvolle Arbeiten, Koordination von Beschaffungen, gemeinsame Ausschreibungen, Entwicklung von Forschung, gerade im Bereich der neuen Methoden, die wir im Krieg in der Ukraine sehen, also etwa Artificial Intelligence. Da ist Europa ganz schlecht aufgestellt."

Der Beitritt zur NATO sei für Finnland wegen seiner langen Grenze mit Russland bedeutender gewesen, so Schüssel. Österreich könne aber viel im Rahmen der EU machen. "Aus diesen Gründen haben wir ja die Verfassung geändert, dass wir mit der europäischen Verteidigungspolitik voll mithalten können und mitmachen sollten. Daher ist auch Sky Shield absolut sinnvoll. Das wird von mir voll unterstützt. Ich glaube, dass vielleicht sogar ein Teil dieses Projektes aus dem EU-Budget gefördert werden kann."

"Gäbe es die Union nicht, dann müsste man sie heute erfinden für alle europäischen Länder, die das wollen. Wir haben in drei Jahrhunderten vorher 123 Kriege gegeneinander geführt und haben jetzt innerhalb der Europäischen Union seit über 70 Jahren Frieden. Das allein ist ein Geschenk, das wir uns selbst gemacht haben", zieht Schüssel Bilanz der EU-Mitgliedschaft. Wäre Österreich noch nicht in der EU, "dann müssten wir uns jetzt sofort anstellen". Noch bevor die EU als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, sei sie übrigens als Verteidigungsgemeinschaft konzipiert worden, so Schüssel.

"Und der wirtschaftliche Erfolg ist ja nicht nur für Österreich da, sondern auch für die gesamte Europäische Union. Die Wirtschaftskraft der EU, die es damals natürlich noch nicht gab, war am Anfang 360 Milliarden. Heute ist sie auf 16.000 Milliarden Euro angestiegen", zieht Schüssel Bilanz. "Das ist ein Riesenerfolg, genauso für Österreich. Wir haben in den 30 Jahren unseres Beitritts unsere Wirtschaftskraft verdreifacht, die Exporte verfünffacht, die Auslandsinvestitionen verzehnfacht. Und politisch ist entscheidend, dass wir vom Rand ins Zentrum der Entscheidung hineingekommen sind."

In Hinblick auf die abnehmende Wettbewerbsfähigkeit Europas plädiert Schüssel dafür, mit "Überbürokratisierung aufzuhören": "Das reicht vom Lieferkettengesetz, über die ESG-Richtlinie bis zur Renaturierung, alles gut gemeinte Dinge, die aber im Sinne der Subsidiarität nicht auf der europäischen Ebene geregelt werden müssen." Zweitens müsse die EU den Binnenmarkt vervollständigen, auch etwa am Arbeitsmarkt. "Auch in den Bereichen Forschung und Kapitalmarkt müssen wir massiv investieren. Wenn das gelingt, könnte es wieder sehr weit bergauf gehen."

"Gut gemeinte Bedenken", etwa von NGOs und Menschenrechtsexperten sind nach Ansicht Schüssels auch der Grund für Europas Probleme in der Asyl- und Migrationspolitik. "Millionen, die zwar keinen Asylanspruch haben, aber trotzdem nach Europa gekommen sind und dann auch aufgrund der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs und der nationalen Höchstgerichte nicht mehr weggehen. Es hat viele Warnungen gegeben: Viktor Orbán, von allen sehr kritisiert, hat das immer gesagt. Sebastian Kurz hat das immer gesagt. Auch Karl Nehammer hat immer wieder auf diese Themen hingewiesen. Das ist oft weggewischt worden, gerade auch von der Kommission." Er hoffe, dass der neue EU-Migrationskommissar Magnus Brunner etwas weiterbringe. "Wer den Binnenmarkt bewahren will, muss natürlich die Außengrenze schützen."

Dass sich Orbán wegen seiner Russland-freundlichen Haltung den Unmut der EU-Kommission und mehrerer EU-Staaten zuzog, hält Schüssel für "ein bisschen übertrieben". So habe etwa auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz mit Putin gesprochen. "Ich habe keine Sympathie dafür, dass man mit dem Kreml weiter freundschaftliche Kontakte unterhält, aber dass man ihn konfrontiert mit unserer Kritik, das halte ich absolut für sinnvoll." Dies gelte auch für die Einladung des russischen Außenministers Sergej Lawrow in die OSZE. Entscheidend sei auch, dass die EU geeint bleibe. Schüssel plädiert zugleich für die weitere Unterstützung der Ukraine. "Allein können sie das nicht stemmen. Es ist bewundernswert, wie sich die Ukrainer wehren und um ihre Freiheit kämpfen. Das verdient jeden Respekt. Nachdem uns Österreicher die Welt im Jahr 1938 allein gelassen hat, sollten wir wissen, wie schmerzlich das ist. Wir sollten daher unbedingt darauf drängen, dass man die Ukraine nicht hängen lässt."

In Hinblick auf die bevorstehende zweite Amtszeit von Donald Trump als US-Präsident rät Schüssel: "Wir sollten unsere Interessen ganz knallhart vertreten." Die von Trump angekündigten Zollerhöhungen würden "so einfach nicht sein". Schüssel: "Es gibt keinen treueren, verlässlicheren Bündnispartner als Europa. Und wenn sie nachhaltig diese Zusammenarbeit verschlechtern wollen, dann wird das nicht im Interesse Amerikas sein."

Schüssel wünscht sich, dass Österreich mit gleichgesinnten Staaten weiterhin die EU-Politik mitbeeinflusst. "Allein mit 9 Millionen werden wir nicht die Europäische Union bewegen können, aber mit anderen gemeinsam kann da sehr viel gelingen, das haben wir immer gezeigt." Dass Österreich in der großen geopolitischen Situation eine Rolle spielen kann, glaubt der Ex-Kanzler nicht. "Da würde ich eher die EU stärken. Wir haben jetzt mit der neuen Außenbeauftragten der Union, Kaja Kallas, eine tolle Persönlichkeit an der Spitze."

Schüssel hat einen optimistischen Ausblick auf die Zukunft der EU. "Ganz sicher" werde auch noch der 50. Jahrestag des EU-Beitritts Österreichs ein Grund zum Feiern sein, sagt der Politiker, der die Beitrittsverhandlungen als Wirtschaftsminister begleitete und Österreichs Haltung als Außenminister und Bundeskanzler maßgeblich prägte. So war Schüssel auch Regierungschef während der sogenannten "EU-Sanktionen" der damals 14 anderen Mitgliedsländer gegen die erste schwarz-blaue Regierung. "In Summe, glaube ich, dass wir in den nächsten 20 Jahren einige faszinierende Entwicklungen sehen werden, etwa in der Medizinforschung. Wir werden Krankheiten besiegen, und Europa wird dabei an der vordersten Front mitspielen können", so Schüssel. "Ich denke, dass wir in der Materialkunde, in der Mobilitätsentwicklung erst am Beginn stehen. In der Frage der Gehirnforschung, der Neurologie, da sind unglaubliche Entwicklungen vor uns, und ich hoffe, dass ich ein bisschen was davon noch miterleben kann."

(Das Interview führte Thomas Schmidt/APA)

ribbon Zusammenfassung
  • Wolfgang Schüssel fordert eine Stärkung der österreichischen Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der EU, da Russland unter Putin eine Bedrohung darstellt.
  • Er betont die Bedeutung der europäischen Verteidigungsdimension und unterstützt die Einführung eines EU-Verteidigungskommissars.
  • Schüssel hebt hervor, dass Österreich seine Wirtschaftskraft seit dem EU-Beitritt verdreifacht und die Exporte verfünffacht hat.
  • Er kritisiert die Überbürokratisierung der EU und fordert Investitionen in Forschung und Kapitalmarkt.
  • Schüssel plädiert für eine starke Unterstützung der Ukraine durch die EU und sieht die Union als unverzichtbaren Partner.