Reportage
505 Tage Dunkelheit: "Wir sind am Leben"
"Papa, werden wir sterben?", fragt der 8-jährige Naveh seinen Papa Tal Shoham am 7. Oktober 2023. "Ich hoffe nicht", antwortet er seinem Sohn, ohne ihm dabei in die Augen schauen zu können.
Zu diesem Zeitpunkt kauert die Familie Shoham-Haran auf dem Boden des Sicherheitsraumes im Haus der Schwiegereltern. Draußen arabisches Gebrüll dutzender Männer. Sie versuchen, in den Raum einzudringen. Mit Maschinengewehren, mit einem Bulldozer.
Überlebensmodus
Wie von selbst wechselt Papa Tal Shoham in den Überlebensmodus. Er muss seine Frau Adi und die beiden gemeinsamen Kinder vor diesen Männern schützen.
Doch es sind zu viele. Die Familie wird sich ihnen nach kurzer Zeit ergeben. Ihnen, den Terroristen der Hamas, die gekommen sind, um Tal Shoham und seine Familie auszulöschen. Weil sie Juden sind.
Das Haus, in dem sich diese Szenen abspielen, steht im Kibbuz Be'eri, nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Und genau dorthin, nach Gaza, werden Tal Shoham, seine beiden Kinder, Ehefrau Adi, ihre Mutter und noch weitere Familienmitglieder entführt.
Während acht von ihnen – darunter Frau Adi und die Kinder – nach fast 50 Tagen Gefangenschaft freikommen, hält der Alptraum für Familienvater Tal Shoham ganze 505 Tage an.
Rückkehr in den Kibbuz
Mit einer kleinen Gruppe von österreichischen Journalist:innen, darunter auch PULS 24, kehrt der israelisch-österreichische Staatsbürger zum ersten Mal an jenen Ort zurück, wo alles seinen Anfang nahm.
Es ist still um uns, als wir in die Straße einbiegen, wo das Haus seiner Schwiegereltern steht. Zumindest, was davon noch übrig ist.
Trotz des verheerenden Anblicks hat Tal offenbar nichts von seinem Humor verloren. "Welcome to the Saloon", sagt er und lächelt in unsere Kamera. Doch der Salon, also das Wohnzimmer, liegt in Trümmern.
Wir gehen über einen Boden aus Schutt und Asche, von Raum zu Raum – was davon noch übrig ist.
Als das Schöne zum Albtraum wurde
Mit unserer Kamera begleite ich ihn durch das Haus. Es braucht keine Fragen. Shoham erzählt einfach. Er erinnert sich an die schöne Zeit vor dem 7. Oktober 2023, als man hier als Familie unbeschwert zusammensaß.
Als aus dem Zimmer nebenan, das die Schwiegereltern für den damals achtjährigen Naveh und seine dreijährige Schwester Yahel eingerichtet haben, noch Kinderlachen zu hören war. Dieses unbeschwerte Leben vor dem 7. Oktober. Ausgelöscht.
Tal Shoham war mit seiner Frau Adi und den gemeinsamen Kindern an diesem schicksalshaften Tag zu Besuch bei Adis Eltern im Kibbuz. Man wollte gemeinsam das jüdische Fest "Simchat Tora" feiern und unbeschwerte Familienzeit verbringen. Von dieser Unbeschwertheit kann er kurz danach nichts mehr erzählen.
Detailliert und bildlich schildert mir der heute 40-jährige Familienvater von jenen Momenten, als die Terroristen über sie herfielen.
Wir kommen in den Sicherheitsraum. Einen solchen hat fast jedes Haus im Kibbuz. Dieser wird eingerichtet, um sich vor Raketenbeschuss aus dem nahegelegenen Gazastreifen zu schützen. Doch die Schutzräume sollten das Kibbuz auch nicht beschützen können.
"Er wirkt so viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte", erzählt mir Tal, während er sich im Raum umsieht und weiterspricht.
"Wo ist die IDF?"
Nachdem sie sich den Terroristen ergeben hatten, wurde Tal von seiner Familie getrennt. Der damals 38-Jährige ist umzingelt von Terroristen, die ungehindert wüten konnten.
"Wo ist die IDF? (das israelische Militär, Anm.) Warum lässt man uns allein? Ich konnte es nicht glauben", schildert Tal den Moment seiner Entführung. Er wird in den Kofferraum eines Autos gepfercht. Es dauert nicht lange, bis er im Gazastreifen ankommt.
"Ich gehe nicht auf die Knie"
"Ich wusste, dass ich jetzt dort bin. Ich habe laute Allahu-Akbar-Schreie (Gott ist groß, Anm.) gehört. Auf einem Motorrad wurde ich dann dem aufgeheizten Mob präsentiert. Sie nannten mich Juden-Sau", erzählt Tal Shoham. Einer der Terroristen forderte ihn auf, sich hinzuknien.
"Aber ich dachte mir nein! Ich gehe nicht auf die Knie, damit sie mich wie der IS (Islamischer Staat, Anm.) köpfen können. Ich konnte zwar nicht beeinflussen, ob ich jetzt sterbe, aber zumindest wollte ich entscheiden, wie es passiert." Tal Shoham bleibt also stehen und darf weiterleben. Aber nun beginnen für ihn 505 Tage der Dunkelheit.
Rettungsauto als Geiseltransport
In der Gefangenschaft der Hamas muss er wiederholt das Versteck wechseln. Einmal zwingt man ihn, sich als Frau in Vollverschleierung zu tarnen. Ein anderes Mal wird er mit einem Rettungsauto in ein anderes Haus gebracht.
Es vergehen 50 Tage voller Hunger, Folter und Ungewissheit. Doch dann, endlich ein Lichtblick. Adi, seine Frau und die beiden Kinder sind am Leben. Einer der Wächter hatte ihm diese Nachricht mitgeteilt – unter Androhung, ihn zu töten, sollte er ihn verraten. Tal Shoham atmet durch und weint. Er weint bitterlich, mit einer Decke über dem Kopf. Denn Männer haben dort, wo er jetzt festgehalten wird, nicht zu weinen, erzählt er mir.
Video: Tal Shoham: "Sie fragten uns, ob wir sterben möchten"
Das Schlimmste vorgestellt
In seinen dunkelsten Momenten hat er eine Beerdigung für seine Familie im Kopf durchgespielt. "Ich habe mir vorgestellt, dass ich an ihren Gräbern stehe und mich von ihnen verabschiede. Das war das härteste, was ich jemals gemacht habe. Aber ich wollte mir das schlimmste Szenario vorstellen, um die Realität fühlen zu können", erzählt uns Tal unter Tränen.
Während der heute 40-jährige Israeli-Österreicher anfangs noch dachte, bestimmt nach wenigen Tagen durch einen Deal zwischen Israel und der Hamas wieder freizukommen, ziehen die Tage ins umkämpfte Land. "Wie wenig ich zu diesem Zeitpunkt wusste", erzählt er uns und lächelt sanft.
Ein Loch unter der Erde
Denn die schlimmste Zeit wird ihm in diesem Moment noch bevorstehen. Im Mai oder Juni 2024, so genau kann er das nicht sagen, geht es für ihn und zwei weitere Geiseln unter die Erde. Eine weitere männliche Geisel wartet bereits dort.
Jetzt sind sie also zu viert: Tal Shoham, Omer Wenkert (23), Guy Gilboa-Dalal (23) und Evyatar David (24).
Zu viert, weit unter der Erde, ohne Tageslicht, mit wenig Sauerstoff, in einem Tunnel. "Der Tunnel war etwa einen Meter breit, 1,80 Meter hoch und zwölf Meter lang. Ein Erdloch war die Toilette", erzählt Tal, während wir durch das Kibbuz gehen.
In diesem Loch muss er weitere achteinhalb Monate ausharren.
"Die schlimmste Folter war der Hunger. Zwei Monate lang gab es für jeden nur eine Pita. Wir haben geschaut, dass jeder gleich viel bekommt." Als Tal freikommt, hat er fast 30 Kilogramm verloren und wiegt nicht einmal mehr 50 Kilogramm.
"Wir haben bis zu 14 Stunden am Tag geschlafen. Es gab keine Möglichkeit, von dort wegzukommen. Wir haben gegen Ende immer weniger zu essen bekommen. Ich wurde krank, hatte durch die fehlenden Vitamine Hämatome am Körper. Sie wollten, dass wir so schlimm aussehen", erzählt mir Tal.
Presslufthammer verrät die Tageszeit
Nach all den Tagen der Gefangenschaft fällt es ihm schwer, sein Zeitgefühl zu bewahren. Es ist praktisch unmöglich in der ständigen Dunkelheit. Um zumindest Tag und Nacht unterscheiden zu können, dient den vier Männern der Lärm eines Presslufthammers. Wenn dieser in Betrieb ist, um offenbar das Tunnel-System der Hamas in Gaza weiter auszubauen, muss es Tag sein. Bei Stille Nacht.
Eines Tages kommen Wärter zu den vier Geiseln in den Tunnel: "Wir haben Neuigkeiten für euch. Zwei von euch kommen frei."
Als Tal Shoham uns davon erzählt, stockt seine Stimme, er weint und blickt auf die Fotos, die vor ihm auf dem Tisch liegen. Sie zeigen Guy Gilboa-Dalal (23) und Evyatar David (24). Die beiden jungen Männer – sie wurden vom Nova Music Festival entführt – sind nach wie vor in der Gefangenschaft der Hamas.
"Ich bin in Freiheit, aber …"
"Ich bin in Freiheit, aber ich werde erst zur Ruhe kommen, wenn meine neu dazu gewonnenen Brüder, Guy und Evyatar, zurück in Israel sind."
Die Eltern von Guy Gilboa-Dalal kämpfen auch nach 16 Monaten noch um die Rückkehr ihres Sohnes.
Für Tal Shoham und eine weitere Geisel aus dem Tunnel, Omer Wenkert, geht es also nach 505 Tagen Gefangenschaft am 22. Februar 2025 zurück nachhause, nach Israel.
Und nun steht er mit uns genau dort, wo alles begann. Im Kibbuz Be'eri, wo am 7. Oktober 2023, Terroristen der Hamas 102 Menschen brutal ermordeten – darunter auch den Schwiegervater von Tal Shoham. Nichts ist mehr, wie es einmal war.
"Es ist schlimmer hierher zurückzukommen, als ich gedacht habe", so der heute 40-Jährige.
Er, seine Frau Adi, ihre Mutter und die beiden Kinder, sind auf der Straße im Kibbuz, wo das Haus der Schwiegereltern steht, die einzigen Überlebenden.
"Wir sind am Leben"
Anstatt seine Familie zu beerdigen, wie er es sich in den dunkelsten Momenten seiner Geiselhaft vorgestellt hat, kann Tal Shoham sie in die Arme schließen.
Er kann seinem Sohn nun in die Augen schauen und sagen: "Wir sind am Leben und das hoffentlich noch sehr, sehr lange Zeit."
In einem PULS 24 Spezial "505 Tage Dunkelheit - Tal Shohams Geiselhaft" am Montag, den 17. März um 20.10 Uhr nehmen PULS 24 und JOYN seine Zuseher:innen mit zum Interview mit Shoham und zu seiner Rückkehr ins Kibbuz, aus dem er entführt wurde.
Zusammenfassung
- Tal Shoham wurde 505 Tage von der Hamas unter unmenschlichen Bedingungen als Geisel gehalten.
- Mit PULS 24 kehrt er zurück an den Ort, an dem er und seine Familie entführt wurden und schildert seine Erlebnisse.