Schallenberg zu Orbáns EU-Vorsitz: "Kirche im Dorf lassen"
Ungarn hat zurzeit für sechs Monate den rotierenden Vorsitz im Rat der EU-Staaten inne. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán heimste sich mit nicht koordinierten Besuchen bei Russlands Präsidenten Wladimir Putin, Chinas Staatschef Xi Jinping oder dem republikanischen US-Präsidentschaftsbewerber Donald Trump aber deutliche Kritik von Seiten anderer EU-Staaten ein. Als Reaktion auf das Verhalten Orbáns kündigte der EU-Chefdiplomat Josep Borrell an, ein für Ende August geplantes informelles Treffen der EU-Außenminister statt in Budapest in Brüssel abhalten zu wollen.
Schallenberg nahm dies "zur Kenntnis", erklärte im APA-Interview aber auch: "Ich weiß, dass die Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen innerhalb der Europäischen Union dagegen war." Er halte es mit Bundeskanzler Karl Nehammer (ebenfalls ÖVP), dass der kritische Dialog mit Orbán gesucht werden müsse, die Aufregung aber auch nicht übertrieben werden dürfe. "Wenn wir uns der Aufgeregtheitsspirale hingeben, nützt das am ehesten Orbán selbst." So entstehe der Eindruck, das Orbán mehr Einfluss habe, als dies als Ministerpräsidenten eines mittelgroßen Landes tatsächlich der Fall sei. Schließlich habe er die Reisen ja nicht im Namen der Europäischen Union unternommen.
Zudem müsse man bezüglich der ungarischen Performance Folgendes unterscheiden: "Was wird für die Galerie zu Hause gemacht und wie verhalten sie sich in Brüssel?" Ungarn trage viele Entscheidungen in der EU mit. Außerdem werde sich letztlich auch Orbán an die Regeln halten, weil er mit einer "völlig gescheiterten EU-Ratspräsidentschaft am Ende mit leeren Händen dasteht."
Inwieweit der Machtwechsel in Großbritannien von den konservativen Tories zur sozialdemokratischen Labourparty eine Folge der Erfahrungen nach dem Brexit, also dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU, zusammenhängt, wollte Schallenberg nicht beurteilen. "Das ist schwer zu beantworten, weil im Grunde genommen wird den Briten ja immer wieder Sand in die Augen gestreut, was Brexit eigentlich bedeutet. Wir hatten eine Pandemie, wir haben den russischen Angriffskrieg. Das heißt, es gibt viele Faktoren, die man als Ursache der Probleme bezeichnen kann. Und damit kaschieren, dass vielleicht vielerorts der Brexit der eigentliche Auslöser ist. "
Er hoffe aber, dass die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung unter Premier Keir Starmer noch weiter intensiviert werden könne. Zu tun sei genug. "Großbritannien ist aus dem ganzen Rechtskonstrukt des Binnenmarktes rausgefallen und da gibt es noch enorm viele Lücken, die wir bei weitem nicht gefüllt haben." Die österreichische Bundesregierung stehe aber bereit, das raschestmöglich bilateral zu lösen. "Großbritannien bleibt ein wesentlicher Partner in Europa, bleibt ein europäischer Staat. Wir waren nie Freunde des Brexits, aber wir sollten jetzt einfach danach trachten, das bilaterale Verhältnis so sinnvoll und effizient wie möglich zu gestalten."
Anzustreben sei auch eine Zusammenarbeit im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. "Warum können wir nicht eine Lösung finden, die es den Briten ermöglicht, an EU-Missionen teilzunehmen, wenn sie dies wünschen, sie einen entsprechenden Kostenanteil tragen und wir sie möglichst eng an uns binden?" Es könne weit mehr gemacht werden als bisher. Wegen des Brexits Rachegelüste zu haben, "nützt niemandem", warnte Schallenberg. "Wir haben engste wirtschaftliche Verflechtungen. London ist heute einer der größten Finanzplätze. Wir haben 30.000 Österreicher, die dort leben. Also ich glaube, da haben wir einfach ein natürliches Interesse, diese Beziehungen pragmatisch und effizient zu gestalten."
(Das Gespräch führte Edgar Schütz/APA)
Zusammenfassung
- Außenminister Alexander Schallenberg appelliert zur Mäßigung hinsichtlich des ungarischen EU-Ratsvorsitzes und kritisiert Viktor Orbáns unkoordinierte Besuche in Russland, China und den USA.
- EU-Chefdiplomat Josep Borrell verlegt ein für Ende August geplantes informelles Treffen der EU-Außenminister von Budapest nach Brüssel.
- Schallenberg betont die Bedeutung Großbritanniens als Partner in Europa und plädiert für eine pragmatische Zusammenarbeit, insbesondere im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.