Militärexperte: Europa muss atomar aufrüsten
"Dass die Amerikaner nicht mehr lang bei der militärischen Unterstützung dabei sind, ist absehbar", erklärt Gressel, der an der Landesverteidigungsakademie in Wien forscht. Er gebe der Ukraine ohne die USA das Durchhaltevermögen von einem Jahr. Ob Europa die Lücke, die die USA aufreißen, füllen kann? "Das kommt sehr darauf an", meint der Militärexperte. Es brauche "glaubhafte Sicherheitsstrategien". Es müsse Russland glaubhaft gemacht werden, "dass die Europäer dann wirklich auf der Matte stehen".
Um dies umzusetzen, wollte der US-Sondergesandte für die Ukraine, Keith Kellogg, mit den europäischen Regierungen reden, berichtet Gressel. Er schickte einen Fragebogen an die EU-Staaten. Darin wurde abgefragt, welchen Beitrag die Länder zu Sicherheitsgarantien für die Ukraine leisten könnten. Kellogg habe aber auch wissen wollen, welche amerikanischen Sicherheitsmaßnahmen die Europäer für eine konventionelle Unterstützung der Ukraine durch Truppen bräuchten.
Die Abmachung sei gewesen: Die Atomwaffen der Amerikaner "stehen als Lebensversicherung dahinter". Doch US-Präsident Donald Trump "will davon anscheinend nichts wissen", erläutert Gressel. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth hatte bei seiner jüngsten Europa-Reise bereits klargemacht, dass Kiew sich von einem NATO-Beitritt verabschieden soll und die Europäer aus US-Sicht die alleinige Verantwortung für die Verteidigung der Ukraine tragen.
Die USA bahnen mit Russland Verhandlungen über eine Friedenslösung, ohne Einbeziehung der Ukraine und der Europäer, an. Trump ist nach Ansicht des Experten "ein schwacher Präsident", der sich starken Nationen wie Russland nicht entgegenstelle. "Das ist halt auch ein atemberaubendes Zeugnis der Amateurhaftigkeit der amerikanischen Regierung." Der russische Machthaber Wladimir Putin erwarte, dass Trump ihm die Ukraine "auf dem Silbertablett serviert".
Putin will "Europa-dominierende Militärmacht" werden
Wenn die Ukraine "zusammenbricht", würde Russland sie erobern. Der Westen sei dann mit einer "starken, siegestrunkenen russischen Armee" konfrontiert. Die Russen wollten einen Waffenstillstand und eine Aufhebung der Sanktionen erreichen, weil ihnen dies "um vieles leichter machen würde, wieder aufzurüsten. Dann geht es von Neuem los, dann haben wir einen Fortsetzungskrieg", erwartet Gressel. Putins Ziel sei nicht nur, die Ukraine zu unterwerfen. Russland soll nach Wunsch des Kreml eine "Europa-dominierende Militärmacht" werden. Nach dem Motto: "Zuerst fressen wir die Ukraine, dann fressen wir die Europäer", sagt Gressel. Um dieses Ziel zu erreichen, würde Putin wohl nicht warten, bis die Europäer aufrüsten.
Russland leide drei Jahre nach Beginn seines Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 an Materialproblemen. Vor allem gepanzerte Fahrzeuge fehlten, Artilleriesysteme werden knapp. Die Ukrainer seien im Vergleich von vor einem Jahr nun mit Munition besser ausgestattet, erklärt der Experte. Doch ohne die USA werde es schwierig: Die USA hätten ein Anbietermonopol bei diversen Arten von Munition wie Clustermunition. Patriot-Flugabwehrraketensysteme; Munition für Mehrfachraketenwerfer HIMARS oder ATACMS-Raketen kommen alle aus den USA. Auch hätten die Amerikaner ein viel größere Lagerbestände an Panzern als die Europäer.
Ukraine muss abschreckungsfähig sein
Einen möglichen Fortsetzungskrieg könne der Westen "verhindern, etwa dadurch, dass man europäische Truppen in die Ukraine schickt". Außerdem müsse Europa genügend Rüstungsgüter zusammenbekommen, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, abschreckungsfähig zu sein.
In Europa gebe es mit Frankreich und Großbritannien zwei Atommächte, die zusammen sehr wohl eine Abschreckung darstellen könnten. Die beiden Länder verfügen zwar über ein "relativ beschränktes Arsenal", das sei aber ausbaufähig. Die Franzosen hätten Fertigungsstraßen für Nuklearsprengköpfe gehabt, die man wieder herstellen könne. Auch eine Verbreiterung der Einsatzmöglichkeiten sei möglich - aber: "nicht von heute auf morgen. Die Bereitstellung dauert einige Jahre".
Die Europäer sollten nach Ansicht Gressels außerdem klar kommunizieren, dass sie sich an den Atomwaffensperrvertrag (NPT/Non-Proliferation Treaty) nicht mehr gebunden fühlten. Im NPT verpflichten sich Kernwaffenstaaten auf das Ziel vollständiger atomarer Abrüstung und der Einhaltung der UNO-Charta, und die Nichtkernwaffenstaaten auf den Verzicht von Nuklearwaffen. Russland halte sich jedoch nicht mehr daran. Die USA verteidigten ihn trotz ihres "nuklearen Privilegs" nicht, so Gressel.
Ein "großer Krieg" könnte drohen
Ein weiterer Beitrag, den die Europäer leisten könnten, sei die Entsendung von Soldaten. Eine UNO-Friedensmission erachtet Gressel allerdings als unrealistisch. "Das würde Russland nie respektieren", sagt er unter Verweis auf die frühere OSZE-Beobachtermission in der Ukraine, die Russland "null abgehalten hat". Eine weitere Möglichkeit sei eine Schutztruppe ähnlich wie die NATO-geführte KFOR im Kosovo. Um die Grenzen der Ukraine zu schützen, bräuchte es allerdings "als absolutes Minimum" 300.000 Soldaten. "Dafür gibt es die Mittel in Europa nicht."
Als realistische Sicherheitsstrategie sieht Gressel eine Zusammenarbeit von europäischen Soldaten mit ukrainischen Verbänden. So könnten britische oder französische Soldaten mit Ukrainern üben und "ein bisschen" an die Grenze gehen als Teil einer gemeinsamen Verteidigungsstreitmacht. Für solche Brigaden wären "weit weniger Kräfte" notwendig. Russische Streitkräfte könnten bei einem Angriff nicht sicher sein, ob sie nicht auch europäische Soldaten treffen. Russland sei dem Risiko ausgesetzt, dass "wenn sie einen Blödsinn anstellen, dass sie mit diesem Blödsinn einen größeren Krieg auslösen, als sie eigentlich auslösen wollten". Diese Strategie sei freilich ein politisches Risiko: "Einige Bundeskanzler und Premierminister müssten über ihren Schatten springen."
Entwicklung wird auch Österreich betreffen
Die Frage, ob diese Entwicklungen auch Österreichs Sicherheit betrifft, beantwortete der Experte so: "Österreichs sicherheitspolitische Diskussion ist irrational. Es herrscht der Glaube, dass uns die Neutralität vor irgendwas schützt." Doch die Entwicklungen würden "nicht an Österreich vorbei gehen", warnt Gressel.
(Das Gespräch führte Alexandra Demcisin/APA)
Zusammenfassung
- Nach drei Jahren Krieg steht die Ukraine vor politischer Unsicherheit, da die USA möglicherweise ihre Unterstützung zurückziehen.
- Experte Gustav Gressel warnt, dass Russland eine Europa-dominierende Militärmacht anstrebt und die Ukraine erobern könnte.
- Europa könnte durch Entsendung von Truppen und atomare Abschreckung einen Fortsetzungskrieg verhindern.
- Frankreich und Großbritannien verfügen über ein ausbaufähiges Atomarsenal zur Abschreckung.
- Österreichs Sicherheit könnte durch diese Entwicklungen ebenfalls betroffen sein.