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Israel rückt in Nord-Gaza vor und erhöht Druck auf Rafah

Die israelische Armee hat ihre Angriffe im Gazastreifen am Wochenende auch wieder auf Orte ausgeweitet, in denen das Militär schon im Einsatz gewesen ist. Israelische Soldaten hätten einen erneuten Einsatz in dem Flüchtlingsviertel Jabalia im Norden des Küstengebiets begonnen, teilte das Militär am Sonntag mit. Die Armee setzt außerdem ihre nach eigenen Angaben "präzisen" Vorstöße in der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens fort.

Auch der militärische Arm der Terrororganisation Hamas berichtete von schweren Zusammenstößen seiner Kämpfer mit israelischen Truppen in Jabalia. Dort ist das größte der acht Flüchtlingslager im Gazastreifen, es beherbergt rund 100.000 Menschen. Die meisten von ihnen sind Nachfahren der Palästinenser, die im Zuge der Gründung des Staates Israel 1948 aus ihren Städten und Dörfern vertrieben wurden. Am späten Samstagabend hatte das israelische Militär mitgeteilt, dass Soldaten in Jabalia vorrückten. "Wir haben in den vergangenen Wochen Versuche der Hamas festgestellt, ihre militärischen Kapazitäten in Jabalia wiederherzustellen. Wir sind dort im Einsatz, um diese Versuche zu unterbinden", sagte Militärsprecher Daniel Hagari.

"Die Bombardierungen aus der Luft und vom Boden haben seit gestern nicht aufgehört", berichtete Said, ein Einwohner von Jabalia. "Sie haben überall bombardiert, auch in der Nähe von Schulen, in denen Menschen wohnen, die ihre Häuser verloren haben." Über eine Chat-App sagte er der Nachrichtenagentur Reuters: "Der Krieg bricht wieder aus, so sieht es in Jabalia aus." Der neue israelische Vorstoß zwinge viele Familien, ihr Heim zu verlassen.

Von erheblichem Beschuss berichteten auch Anrainer in Al-Seitun und Al-Sabra. Mehrere Wohngebäude, darunter auch Hochhäuser, seien zerstört worden. Das israelische Militär hatte erklärt, die meisten der betroffenen Gebiete seien bereits seit Monaten unter seiner Kontrolle.

In die östliche Stadt Deir Al-Balah seien keine Panzer eingedrungen, berichteten Einwohner und Medien der im Gazastreifen herrschenden Hamas. Einige Panzer und Bulldozer hätten jedoch den Zaun am Stadtrand durchbrochen, was zu Schießereien mit Hamas-Kämpfern geführt habe. Bei einem Luftangriff am späten Samstagabend in Deir Al-Balah wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde zwei Ärzte getötet.

Der bewaffnete Teil der Hamas und des mit ihr verbündeten Islamischen Jihads erklärten, ihre Kämpfer hätten israelische Soldaten in mehreren Gebieten im Gazastreifen mit Panzerabwehrraketen und Mörsergranaten angegriffen. Darunter sei auch Rafah. In die Stadt an der Grenze zu Ägypten waren schon vor geraumer Zeit mehr als eine Million Menschen vor den Kämpfen vor allem im Norden des Gazastreifens geflohen.

Nun flüchteten aus Rafah am Sonntag erneut Tausende. Das israelische Militär erhöhte den Druck und feuerte Panzergranaten, die in der ganzen Stadt einschlugen. Zudem ordnete die Armee die Räumung weiterer Teile von Rafah an, diesmal betrifft es einige Viertel im Zentrum der Stadt. Die Operationen von Israels Militär in Rafah seien "begrenzt" und "konzentrieren sich auf taktische Vorstöße", erklärte die Armee. "Dicht besiedelte Gebiete" würden vermieden.

Israel sieht Rafah als die letzte Bastion der radikalislamischen Hamas. Der Einsatz zielt israelischen Angaben zufolge zudem darauf ab, die dort vermuteten Geiseln aus der Gewalt der Hamas zu befreien. Mit dem "präzisen" Einsatz wolle man eine "dauerhafte Niederlage der Hamas" erreichen, sagte Hagari. Er betonte, Israel führe Krieg gegen die Hamas, "nicht gegen die Menschen in Gaza".

Israels militärisches Vorgehen in dem an Ägypten grenzenden Teil des abgeriegelten Küstenstreifens ist international höchst umstritten. Bis zuletzt drängten sich dort mehr als eine Million Menschen zusammen, die aus anderen Teilen des Gazastreifens geflohen waren. Nicht nur Hilfsorganisationen befürchten, dass eine Ausweitung der israelischen Offensive dazu führen könnte, dass Hunderttausende Zivilisten zwischen die Fronten geraten. Die ohnehin prekäre Versorgung der Menschen könnte völlig zusammenbrechen. Die USA, Israels wichtigster Verbündeter, warnen eindringlich vor einer groß angelegten Offensive. US-Präsident Joe Biden drohte zuletzt sogar mit der Beschränkung von Waffenlieferungen an Israel.

US-Außenminister Antony Blinken warf Israel vor, bei einem Angriff auf die Stadt Rafah keinen "glaubhaften Plan" für den Schutz der Zivilbevölkerung zu haben. Dem Sender ABC sagte Blinken, dass Präsident Joe Biden weiterhin entschlossen sei, Israel bei der Selbstverteidigung zu helfen, und dass ein Paket von 3500 Bomben die einzige Waffenlieferung sei, die die USA zurückhielten. Grund dafür seien Befürchtungen, die Bomben könnten in Rafah eingesetzt werden, wo rund 1,4 Millionen Zivilisten bei schlechter Versorgungslage Schutz suchten.

Wie unterdessen die Zeitung "Washington Post" am Samstag (Ortszeit) unter Berufung auf vier mit dem US-Angebot vertraute Personen berichtete, boten die USA Israel für den Verzicht auf eine Großoffensive in Rafah Hilfe beim Aufspüren von Anführern der islamistischen Hamas an. Die USA würden demnach dem israelischen Militär mit geheimdienstlicher Unterstützung helfen, den Aufenthaltsort von Hamas-Anführern sowie unterirdische Tunnel der Terrororganisation zu lokalisieren. Dies sei ein Teil der Bemühungen der US-Regierung, eine umfassende Invasion in der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt Rafah im Süden des abgeriegelten Gazastreifens abzuwenden, hieß es.

Amerikanische Beamte hätten zudem angeboten, Israel Tausende von Notunterkünften bereitzustellen, damit die Armee Zeltstädte für die zu evakuierenden Bewohner von Rafah aufbauen könne, hieß es weiter. US-Präsident Joe Biden und seine ranghohen Berater hätten in den vergangenen Wochen solche Angebote gemacht, in der Hoffnung, Israel damit zu einem begrenzteren und gezielteren Einsatz in Rafah bewegen zu können.

Eine aus dem Gazastreifen abgefeuerte Rakete ist unterdessen nach Medienberichten in der Nacht auf Sonntag in einem Wohnhaus in der israelischen Küstenstadt Ashkelon eingeschlagen. Drei Menschen seien dabei verletzt worden, hieß es in Medienberichten. Die islamistische Terrororganisation Hamas hatte zuletzt wieder verstärkt israelische Ortschaften vom Gazastreifen aus angegriffen.

Das israelische Fernsehen berichtete am Samstagabend, es werde damit gerechnet, dass nach mehreren Monaten Pause auch wieder Raketen auf den Großraum Tel Aviv fliegen könnten, wenn die israelische Armee tiefer in die Stadt Rafah eindringe. Die Hamas verfüge nach israelischen Einschätzungen auch nach sieben Monaten Gaza-Krieg weiter über Raketen mit der notwendigen Reichweite.

ribbon Zusammenfassung
  • Die israelische Armee hat ihre Militäroperationen in den Gebieten Jabalia und Rafah im Gazastreifen intensiviert, um die militärischen Kapazitäten der Hamas zu unterbinden.
  • In Rafah wurden aufgrund der israelischen Angriffe erneut Tausende zur Flucht gezwungen, während die USA Israel geheimdienstliche Unterstützung für den Verzicht auf eine Großoffensive anboten.
  • US-Außenminister Antony Blinken kritisierte Israel für das Fehlen eines glaubhaften Plans zum Schutz der Zivilbevölkerung in Rafah, eine Stadt, in der sich über 1,4 Millionen Menschen in prekärer Versorgungslage befinden.
  • Eine aus dem Gazastreifen abgefeuerte Rakete traf ein Wohnhaus in Ashkelon und verletzte drei Menschen; die islamistische Terrororganisation Hamas verstärkte ihre Angriffe auf israelische Ortschaften.
  • Internationale Besorgnis wächst über das militärische Vorgehen Israels in Rafah, das an Ägypten grenzt und wo eine humanitäre Krise droht; die USA drohten mit einer Beschränkung von Waffenlieferungen.