Nach Villach-Anschlag
Extremismusforscher: "Situation ist lebensgefährlich"
Der deutsche Extremismusforscher Ahmad Mansour, in Israel geboren und arabisch-palästinensischer Herkunft, warnt schon länger vor einer Zunahme islamistischer Anschläge.
"Ich merke das in meiner Arbeit in den Schulen, in Asylheimen auf zwei Ebenen. Zu einem, wie distanziert die jungen Menschen gegenüber Deutschland und Europa geworden sind aufgrund des Nahost-Konflikts. Und wie gut und wie erfolgreich die Islamisten andererseits in den sozialen Medien genau diese Stimmung nutzen, um anzuwerben", erläutert Mansour im Gespräch mit der APA.
Integrationsmaßnahmen massiv abgenommen
Dabei wolle er deutlich betonen, dass das Thema Islamismus größer sei als das Thema Flüchtlinge – aber hier hätten die Integrationsbemühungen in den vergangenen drei, vier Jahren massiv abgenommen.
Das habe mit der Corona-Pandemie begonnen, ging weiter mit budgetären Kürzungen samt Rückgängen bei der ehrenamtlichen Tätigkeit – und zudem sei das Thema zeitweise nicht mehr so im Mittelpunkt gestanden.
"Und ich sehe und ich sah, wie viele Leute einfach in Parallelwelten gegangen sind, die zwar physisch in Europa waren, aber emotional dort noch überhaupt nicht angekommen waren." Auch in Schulen mache sich diese Entwicklung bemerkbar.
"Massive Radikalisierungswelle"
Die Entwicklung zeigte sich dann auf der Straße, so Mansour unter Hinweis auf teilweise gewalttätige Pro-Palästina-Demos, hier hätten sich "Tausende sozusagen auch klar von der Mehrheitsgesellschaft und deren Werten" distanziert.
All dies habe ihn, inklusive einer Verharmlosung von Links, dazu bewegt, in aller Deutlichkeit zu sagen: "Die Lage ist lebensgefährlich. Wir stehen unter einer massiven Radikalisierungswelle, die natürlich auch im Extremfall in Terror umschlagen wird." Es sei traurig gewesen zu sehen, dass viele diese Realität nicht sehen wollten und hier Panikmache oder anderes geortet hätten.
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Radikalisierung im Stile eines Influencers
Die Online-Strukturen von Islamisten sind laut Mansour auch seit Jahren bekannt. Hier sei mit professionellen Videos und ebensolchem Auftreten auf Hochdeutsch an Jugendliche über TikTok oder Instagram herangetreten worden, um so deren Themen anzusprechen, sie für sich zu gewinnen - mit dem Ziel, diese auf Distanz zur Mehrheitsgesellschaft zu bringen.
Ähnlich sieht das die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN). "Meistens beginnt es damit, dass Menschen auf Plattformen wie TikTok nach Antworten suchen. Ihnen fehlen vielleicht Werte, sie suchen nach Identität und Zugehörigkeit", sagte Sylvia Mayer, stv. Direktorin der DSN und Chefin des polizeilichen Nachrichtendienstes.
Für Mansour sorgte dann noch ein einschneidendes Ereignis für einen Katalysator, der die Radikalisierung weiter beschleunigt habe: Der Terrorangriff der Hamas auf Israel und der darauffolgende Krieg. "Der 7. Oktober wirkte dann wie Tag X. Islamisten brauchen diese emotionale Stimmung und diese aufgeheizte Atmosphäre", so Mansour – das sei dann ein sehr einfaches Spiel gewesen.
DSN fordert Mittel gegen Online-Radikalisierung
Die Online-Strategie unterscheide sich von IS und Hinterhof-Moscheen, die den Sicherheitsapparaten noch Möglichkeiten gaben zu identifizieren, zu beobachten und auch zu verhindern. Mit der neuen Welle würden die radikalen Inhalte kaum nach außen getragen und im Dunkelfeld bleiben – ein Verhindern von Terroranschlägen werde so natürlich schwierig, so Mansour.
Das sieht auch Mayer so. "Wir brauchen mehr brauchbare rechtliche Möglichkeiten, um in diesen Chatgruppen – wo man sich nach der Radikalisierung durch TikTok verabredet – aktiv sein zu können. Es geht uns darum, eine längere Zeit hier verdeckt tätig sein zu können – nur so können wir nachhaltig gegensteuern", sagte die stv. DSN-Direktorin.
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Mansour fordert Evaluierung der Integrationsarbeit
Es brauche daher jetzt Gegenstrategien in den sozialen Medien, man müsse bei Jugendlichen ein Verständnis für komplexe Sachverhältnisse erzeugen, für Demokratie und Menschenrechte – das wäre das Allerwichtigste. "Zweitens, solange ein Chaos in der Migrations- bzw. Integrationspolitik herrscht, werden wir immer Leute verlieren." Es müsse begriffen werden, dass die Integrationsarbeit enorm viele Ressourcen benötige.
Es gelte, die Integrationsarbeit insgesamt zu evaluieren, es gehe nicht um ein finanzielles Problem. Es gebe im Umfeld der Integration Akteure, die Menschen nicht ernst nehmen, die keine Wertevermittlung betreiben, sondern teilweise sagen: "Egal, was euch passiert, das passiert nur wegen der Mehrheitsgesellschaft". Auch im Fall von unbegleiteten Flüchtlingen gelte es anzusetzen, da Einsamkeit ebenfalls ein Weg in die Radikalisierung sein kann.
Es brauche eine Antwort auf das Bild von Deutschland oder Österreich, das über soziale Medien vermittelt wird, "solange diese Leute nicht begleitet werden, solange wir nicht dagegen arbeiten, sollte es uns nicht wundern, dass diese Leute irgendwann in ihrer Anfälligkeit und in ihrer Labilität ein gefundenes Fressen für Radikale werden".
Islamisten und extreme Rechte "brauchen sich"
Ähnlich wie im Fall von Sekten suche sich jede radikale Ideologie labile Menschen, die ansprechbar und manipulierbar sind, Leute, die nicht angekommen sind oder Jugendliche ohne Selbstwertgefühle, "da sehe ich natürlich Parallelen auch zu Rechtsextremismus, zu Linksextremismus, zu Sekten und vielem mehr".
Die jetzige Welle werde laut Mansour dieses Jahr unser Leben noch massiv bestimmen und werde noch länger dauern, insbesondere "wenn wir nicht anfangen, Jugendliche für uns zu gewinnen und das Thema Migration lösen, indem wir andere, realistische und machbare Wege gehen".
Und mit jedem weiteren islamistischen Anschlag werde sich infolge auch die extreme Rechte ebenfalls weiter radikalisieren, denn beide Seiten "brauchen sich auch gegenseitig".
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Zusammenfassung
- "Die Situation ist lebensgefährlich", mahnt Extremismusforscher Ahmad Mansour.
- Für die aktuelle "Radikalisierungswelle" sieht er auch einen "Tag X".
- Dabei betont er, dass das Thema Islamismus größer sei als das Thema Flüchtlinge.
- Eine große Rolle spielt dabei Radikalisierung in sozialen Netzwerken wie TikTok.
- Der Staatsschutz fordert unterdessen "mehr brauchbare rechtliche Möglichkeiten" zur Überwachung von Chatgruppen.