Die Rede von Van der Bellen im Wortlaut
Liebe Österreicherinnen und Österreicher
und alle Menschen, die in Österreich leben.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Nationalfeiertag.
Es ist ein Feiertag in unruhigen Zeiten.
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Einer Zeit, die von Konflikten, Unsicherheiten
und Widersprüchen geprägt ist.
Außerhalb Österreichs. Und innerhalb.
Was unsere gemeinsame Zukunft
als Gesellschaft betrifft,
sind viele von uns pessimistisch
und wissenschaftliche Studien
unterstreichen dieses Bild.
Der Generationenvertrag,
das Versprechen von steigendem Wohlstand,
Vertrauen in einen Wirtschaftsaufschwung,
der Wert von Leistung, der Glaube an eine
fortwährend intakte Umwelt, der Wert des Friedens;
der Wert der liberalen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft
als Vorbild für die ganze Welt:
All das scheint an Kraft verloren zu haben.
Es ist, als hätten wir uns abgewöhnt,
uns etwas Gutes
von unserer gemeinsamen Zukunft
zu erhoffen.
Gleichzeitig haben sich viele von uns
zurückgezogen auf ihr ganz persönliches
Fortkommen, entkoppelt von der Gemeinschaft.
Und konzentrieren sich ganz auf
das jeweils eigene, persönliche
Leben und wie es zu verbessern ist.
Vielleicht haben viele das Gefühl von
Machtlosigkeit angesichts der Wucht,
mit der die großen Veränderungen passieren.
Das ist menschlich.
Aber dieses Gefühl darf nicht in
Wurschtigkeit umschlagen.
Das wäre gefährlich
für unsere Gesellschaft insgesamt.
Und jedenfalls löst es mit Sicherheit
keines der tiefgreifenden
Zukunftsprobleme.
Meine Damen und Herren,
eine der größten Fragen
unserer Zeit ist doch:
Wie finden wir einen Weg, uns schwierigen,
unvermeidlichen Situationen zu stellen?
Ohne wegzuschauen?
Ohne vorzeitig aufzugeben?
Ohne unsere Errungenschaften zu gefährden?
Ich glaube, dazu ist es als erstes notwendig,
die Dinge anzuerkennen, wie sie sind.
Und ein paar einfache, aber
unbequeme Wahrheiten auszusprechen:
Erstens: Die Probleme werden sich nicht von selber lösen.
Es hilft nicht, wenn Politiker suggerieren,
dass sich die Lebensbedingungen eh
wieder bessern werden,
wenn wir nur fest genug daran glauben.
Es hilft auch nicht, wenn andere
allzu einfache Lösungen versprechen,
wenn man sie nur machen ließe.
Denn zweitens: Es gibt keinen schmerzfreien Weg, die Probleme zu lösen.
Sprechen wir aus, was wir erleben:
Die irreversiblen Klimaschäden.
Die volatile Sicherheitsarchitektur.
Die Herausforderungen, die Migration mit sich bringt.
Die Veränderung der Alterspyramide und geringere Geburtenraten.
Die steigenden Preise.
Die sozialen Probleme.
Die strukturelle Krise der europäischen Wirtschaft.
Digitalisierung und künstliche Intelligenz.
Die Leistungsfeindlichkeit und den neuen Egoismus.
Ja, all das wird Anstrengungen erfordern.
Und es wird neue Lösungen brauchen.
Wir werden mit der Art von Denken,
das uns hierher gebracht hat, nicht weiterkommen.
Denn drittens: Wir müssen Neues wagen.
Die Herausforderungen sind neu.
Die Lösungen sind nicht einfach.
Aber sie sind möglich.
Wenn wir alte Rezepte loslassen
und neu denken.
Die Klimakrise schickt ein
extremes Wetterereignis nach
dem anderen um den Globus.
Wir müssen jetzt endlich ins Tun kommen,
runter mit den Emissionen,
Anpassungsmaßnahmen beschleunigen
Investitionen vervielfachen,
und bürokratische Prozess abkürzen.
Es gibt Migrationsprobleme - also lösen wir sie:
Jeder, der bei uns leben will,
muss als Voraussetzung Deutsch lernen.
Und unsere Kultur und unser Rechtssystem anerkennen.
Die Gleichberechtigung von Mann und Frau
ist bei uns selbstverständlich.
Oder sollte es zumindest sein.
Genauso wie der Respekt
vor gleichgeschlechtlich Liebenden.
Wer das nicht anerkennt und nicht voll mitträgt,
ist nicht willkommen.
Die Teuerung hat
vielen Menschen zu schaffen gemacht.
Das müssen wir lösen.
Genauso wie den Sozialstaat
und das Gesundheitssystem
und die Pflege zukunftsfit machen.
Das wird nicht mit alten Rezepten gehen.
Wir haben ein Thema mit der Produktivität.
Lassen Sie uns offen und ideologiefrei
über ein positives Bild von Wirtschaft und
die grundsätzliche, ich nenne es einmal, Anstrengungsbereitschaft
sprechen:
Wir haben so viele
fleißige Menschen in Österreich,
die unser Land jeden Tag ein Stück besser machen.
Was erwarten wir als Gemeinschaft an
Anstrengungsbereitschaft von jedem einzelnen?
Das Pensionssystem ist so nicht zukunftssicher.
Dann müssen wir eben
neue Lösungen finden
und über den Tellerrand hinausschauen.
Und ja: ich würde sagen,
es wird Beiträge von uns allen brauchen,
auch von der Wirtschaft.
Der Krieg vor unserer Haustür als
Folge der russischen Aggression gegen die Ukraine
geht unvermindert weiter im dritten Jahr.
Wir brauchen eine neue,
wirkungsvolle Verteidigungspolitik,
die unsere Heimat schützt.
Eine gemeinsame, eine europäische.
Und eine Diplomatie die Frieden forciert.
Unser Bildungssystem muss ein zentraler Baustein
werden, um die Herausforderungen
der Zukunft zu meistern.
Wir brauchen schnell neue Antworten.
Bei der Gleichberechtigung müssen wir weiterkommen.
Also, setzen wir endlich flächendeckend
ganztägige Kinderbetreuung in Österreich um.
Das Potenzial von Frauen im Arbeitsmarkt
ist unverzichtbar,
wird aber erst dann voll genutzt werden können,
wenn auch die Männer ihren Anteil
an der Care-Arbeit übernehmen.
Wir müssen auch einen Weg finden,
unsere Industrien so zu
transformieren, dass
sie wirtschaftlichen und
ökologischen Nutzen bringen.
Europa braucht ein neues,
starkes, gemeinsames Bild seiner Zukunft.
Was soll dieses, unser Europa, in 10 Jahren sein?
Und wir brauchen europäische Projekte, an denen man
unsere gemeinsame Stärke auch sieht.
- Erst wenn wir diese Probleme
klar ansprechen und verstehen. - Erst, wenn wir erkennen,
dass sie nicht von selbst verschwinden. - Erst, wenn wir anerkennen,
dass es Anstrengung
brauchen wird, sie zu lösen
und dass wir dazu neues Denken benötigen:
Dann kann es gelingen.
Und dann wird es auch gelingen.
All die angesprochenen Themen
Wird natürlich auch
eine neue Bundesregierung anzugehen haben.
Sie muss dabei neue Wege gehen müssen.
In der Herangehensweise,
im Stil und im Ergebnis.
Meine Damen und Herren,
ich sage nicht, dass
wir es schon schaffen werden.
Aber was ich sage, ist:
Wir können es schaffen.
Wir können es schaffen,
wenn wir die Ärmel hochkrempeln
und beginnen,
unsere Aufgaben zu machen.
Wir können es schaffen,
wenn wir alle über uns hinauswachsen.
Wir alle,
damit meine ich uns Österreicherinnen und Österreicher,
und alle Menschen die hier leben.
Aber natürlich ganz konkret
auch die Politik,
die Parteien, Abgeordneten, Landeshauptleute,
Bürgermeister, Gemeinderätinnen.
Die Vertreter der Arbeitnehmerseite
genauso wie die Vertreter von Wirtschaft und Industrie.
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen
und die Hunderttausenden Ehrenamtlichen in unserem Land.
Lassen Sie uns gemeinsam
an Lösungen arbeiten, die
unser Land weiterbringen,
Lösungen, die allen Menschen in Österreich eine gute Zukunft ermöglichen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Ihr Alexander Van der Bellen.
Zusammenfassung
- Die Rede von Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen anlässlich des Nationalfeiertages 2024 im Wortlaut.