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Wahlkampf nach dem Anschlag: "Hier ist sowieso alles blau"
Frische Brötchen, polnische Wurstspezialitäten, Eier vom Bauern oder nordische Köstlichkeiten. Es gibt Sülze, Bison-Fleisch und bunte Krapfen, die hier "Berliner" heißen und mit "Berliner Luft", einem Pfefferminzlikör, gefüllt sind.
Vor zwei Monaten, am 20. Dezember 2024, war der Marktplatz Tatort. Ein Mann raste mit einem Auto durch den Weihnachtsmarkt. Sechs Menschen starben, hunderte wurden verletzt.
Heute stehen hier wieder Stände, das Geschäft läuft gut.
Doch der Schein trügt. Die Stimmung in der Stadt ist auch zwei Monate nach dem Anschlag betrübt. Hinter den Verkaufsständen, in den Ecken des Platzes und vor allem vor der nahen Johanniskirche liegen hunderte Blumen, Grabkerzen, Stofftiere – Super Marios, rosa Einhörner oder Teddybären - und bemalte Steine am Boden.
Wer Geld abheben will, liest am Bildschirm des Bankomaten: "Unsere Gedanken sind bei allen Opfern, Verletzten und Hinterbliebenen". Es wird auf ein Spendenkonto verwiesen.
Im Rathaus am Alten Markt wurde ein Gedenkraum eingerichtet: "RIP Magdeburg 2024", steht auf einem schwarzen Kranz geschrieben.
Zahlreiche Kerzen vor der Johanniskirche
"Warum?" Das ist die Frage, die am häufigsten auf den Plakaten und Karten zu lesen ist. Auf anderen: "Lasst aus Trauer und Wut nicht Hass und Hetze werden".
Im Kondolenzbuch drückten Besucher:innen ihre Anteilnahme aus. Doch die letzten beiden Einträge haben ein P.S.: "Für uns ist dieses 'Unglück' nicht vergessen!!!" und "Jeder bekommt seine gerechte Strafe!", ist da zu lesen.
In der Hauptstadt von Sachsen-Anhalt herrschen Trauer und Ratlosigkeit, viele sind aber auch wütend und aggressiv. Die Stadt ist gespalten, wie Deutschland im Wahlkampf generell.
Anschlag "nur ein Tüpfelchen auf dem I"
In den deutschen Medien tauchen regelmäßig neue Details zum Anschlag auf: Die Polizei habe den Platz nicht ordentlich gesichert, verschiedene Behörden hatten bereits mit dem späteren Täter, dem 50-jährigen Saudi Taleb A., zu tun und wurden wohl vor ihm gewarnt.
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Warum wurde das Attentat nicht verhindert? Warum bekam Taleb A. Asyl? Seit Donnerstag gibt es im Landtag einen Untersuchungsausschuss dazu.
Das alles fällt mit dem Endspurt des Bundestagswahlkampfs zusammen. Obwohl Taleb A. nicht aus islamistischen Motiven gehandelt haben dürfte und seit 2006 legal in Deutschland lebte, war es wohl dieser Anschlag, der Sicherheit und Migration zum Hauptthema im Rennen um die Kanzlerschaft machte.
Es folgten die tödliche Messerattacke in Aschaffenburg und zuletzt ein Anschlag in München. Im Kanzlerduell eiferten Olaf Scholz (SPD) und Friedrich Merz (CDU) um die Wette, wer denn nun die härtere Migrationspolitik betreibe.
"Zeit, Illegale abzuschieben", plakatiert die AfD derzeit in Deutschland. "Migration: Auch guter Wille muss Grenzen setzen", ist auf FDP-Plakaten in Magdeburg zu lesen. Und direkt am Tatort hängt Werbung für das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW): "Unser Land verdient mehr Sicherheit", ist darauf zu lesen.
Die Kanzlerkandidaten Scholz, Merz und Robert Habeck (Grüne) waren bei einer Trauerveranstaltung in der Stadt. Alice Weidel (AfD) kam zu einem Protest am Domplatz.
Ja, der Anschlag ist ein großes Thema im aktuellen Wahlkampf, ist man sich in der ostdeutschen Landeshauptstadt sicher. Beim Ergebnis werde das aber "nur ein Tüpfelchen auf dem I" sein, sagt Brötchenverkäuferin Marie-Kristin Sauer.
Marie-Kristin Sauer
Auch ihre Familie ist vom Attentat betroffen – eine verwandte Lehrerin war mit ihrer Schulklasse am Weihnachtsmarkt. Sie zog sich mehrere Rippenbrüche zu, sie lebe seither sehr zurückgezogen.
"Hier ist sowieso alles blau", spielt Frau Sauer auf die starke AfD in Sachsen-Anhalt an. Und dass das so ist, kann die Verkäuferin verstehen: "Die haben die richtige Einstellung".
"Ich habe nichts gegen Ausländer", sagt sie, sie hätte selbst welche in der Familie. Doch, wenn jemand 30 Jahre im Land sei und noch nicht Deutsch könne, könne sie das nicht verstehen. Und überhaupt gebe es auch Deutsche, die Bürgergeld erhalten würden, obwohl sie arbeiten könnten, sagt sie überzeugt und laut, während sie Baguettes und Kuchen an ihre Kundschaft verkauft.
"Billiglohnland" Sachsen-Anhalt?
Es ist also nicht nur das Thema Migration, das sie so denken lässt: Die Spritpreise seien im Osten viel teurer als "im Westen". Eigentlich sei alles teurer, die Einkommen dafür geringer und die Schulen veraltet. Für kleinere Unternehmen wie ihre Bäckerei gebe es zu viel Bürokratie, während die großen Unternehmen "im Westen" Fördermittel erhalten würden, ist Frau Sauer überzeugt.
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Die nach wie vor großen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland sind generell ein großes Thema in Magdeburg. Vor der Johanniskirche fotografiert eine Frau die Blumen, Kerzen und Kuscheltiere. Vieles sei schon weggeräumt worden, erklärt sie einer Familie, die aus Mecklenburg-Vorpommern auf Besuch in der Stadt ist und ebenfalls ihre Anteilnahme ausdrücken will.
Trauer in Magdeburg
Gegenüber PULS 24 stellt sich die Frau als "Manuela aus Magdeburg" vor. Fragt man sie nach der Stimmung in der Stadt, holt sie weit aus. Im Jahr 1945 seien 90 Prozent der Stadt zerbombt worden, in der DDR wurden die "Stalinbauten" aufgezogen. Nach der Wende gab es Massenentlassungen, viele seien weggezogen. In Magdeburg hätten Ärzte gefehlt. Viele gingen zum Arbeiten ins nahe Wolfsburg, zu VW.
Und noch heute sei die Stadt durch Abwanderung geprägt: In ganz Deutschland würde man Pädagog:innen suchen, hier werden sie entlassen, sagt Manuela. "Wir haben keine DAX-Unternehmen, keine Autoindustrie, keinen Flughafen". Sachsen-Anhalt bezeichnet sie als "Billiglohnland".
Tatsächlich sind die Gehälter in dem Bundesland um 23 Prozent geringer als in den Bundesländern, die nicht zur DDR gehörten. Sachsen-Anhalt ist laut Statistik das älteste Bundesland Deutschlands, Schuld sind Abwanderung und niedrige Geburtenraten. Bei der Höhe der Rente nach 45 Arbeitsjahren liegt das Bundesland in Deutschland an vorletzter Stelle. 1.452 Euro beträgt die durchschnittliche Pension. Bei der Armutsgefährdung liegt Sachsen-Anhalt an vierter Stelle.
Gewalt und Alkohol
Bei den Kommunalwahlen im Juni erlebte das Bundesland einen Rechtsruck. Knapp ein Drittel der Bevölkerung wählte die hier als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD. In neun von 14 Landkreisen lagen die Blauen an erster Stelle. Bei den Bundestagswahlen am 23. Februar ist wohl mit ähnlichen Ergebnissen zu rechnen.
Denn jetzt kam noch der Anschlag dazu. Manche hätten still getrauert, andere seien wütend und aggressiv geworden. "Ich kann beides verstehen", sagt Manuela. Vor zehn Jahren hätte man noch keine Weihnachtsmärkte beschützen müssen.
Und überhaupt gebe es "keinen sozialen Frieden mehr". Gerade jene Viertel Magdeburgs, in welchen die "Stalinbauten", die "Platten", stehen, hätten am meisten "Integrationsarbeit" zu leisten, sagt die Frau. Das findet sie unfair.
Amé und Mika
Dort, in Magdeburgs Neustadt, spielen Gewalt und Alkohol eine große Rolle, erzählen Mika und Amé. Die beiden jungen Erwachsenen kommen aus der Nähe von Magdeburg, kennen die Probleme der Stadt. Sie machen gerade eine Pause auf einer Parkbank unweit des Tatorts.
Einerseits habe es nach dem Anschlag schon auch Zivilcourage und Zusammenhalt gegeben, sagen sie. Im Wahlkampf werde nun aber versucht, mit dem Geschehenen Stimmung zu machen. Die zerbrochene Ampel-Regierung steht sowieso in der Kritik, nun werde ihr auch die Schuld am Anschlag gegeben, so Amé.
Kurze Trauer, dann Wahlkampf
Sie berichten von einer anderen Auswirkung des Anschlags: Die Stimmung gegenüber Migrant:innen sei extrem angespannt. In den abgelegeneren Stadtteilen – und "im Osten sowieso" – seien Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit große Probleme. Schon kurz nach dem Anschlag gab es einen Aufmarsch mit Naziparolen in der Stadt.
Eine ihr bekannte Lehrerin habe ihr ihre Verzweiflung geschildert, berichtet Amé: Sie hätte muslimische Schüler:innen vor Übergriffen warnen müssen.
Von einem Anstieg rassistischer und rechter Gewalt berichtet auch die Mobile Opferberatung: "Allein für die ersten fünf Tage nach dem Anschlag haben wir 12 Angriffe registriert, davon 7 einfache Körperverletzungen, 1 gefährliche Körperverletzung, 3 Bedrohungen und eine Brandstiftung", heißt es in einem Instagram-Posting.
Wie aufgeheizt die Stimmung in Magdeburg ist, zeigt sich auch an der Zahl der beschmierten, zerrissenen oder entwendeten Wahlplakate. Der MDR hat dazu Zahlen bei den Polizeiinspektionen und dem Landeskriminalamt in Sachsen-Anhalt abgefragt. Das Ergebnis: So viel Vandalismus wie in diesem Wahlkampf habe es noch nie gegeben. Magdeburg zählt zu den Orten mit den meisten Vorkommnissen.
Besonders eine Partei werde aus dieser Stimmung Profit schlagen, sagen Mika und Amé, ohne die AfD beim Namen zu nennen. Die Menschen hätten seit dem Anschlag noch mehr Angst. Die Partei habe sich "kurz hingestellt und getrauert", sei dann aber in den Wahlkampf übergegangen.
Dass die Politik der AfD aber den Terror verhindert hätte oder gar die anderen Probleme in Sachsen-Anhalt bekämpfen würde, daran haben die beiden ihre Zweifel. Viele andere scheint das nicht zu stören. Am Marktstand meint Brötchenverkäuferin Marie-Kristin Sauer, dass mit der Wahl der AfD ein Zeichen für Veränderung gesetzt werden sollte.
Freudenthaler: Migrations-Thema brachte Merz nichts
Berlin-Korrespondent der "Presse", David Freudenthaler, im PULS 24 Gespräch.
Zusammenfassung
- Sechs Menschen starben kurz vor Weihnachten bei einem Anschlag in Magdeburg. Es folgten Aschaffenburg und München.
- Die Themen Sicherheit und Migration prägen seither den Bundestagswahlkampf in Deutschland.
- PULS 24 hat sich in Magdeburg umgehört, welche Parteien daraus Profit schlagen wollen und wie das in der betroffenen Stadt ankommt.