Abrechnung mit der Ampel?
Deutsche Stahlstadt zwischen Industriekrise und Rechtsruck
Die rostbraunen Hochöfen, die Schlote, die Kühltürme und Lagerhallen leuchten golden in der Wintersonne. Fast, als wolle das Werk an die goldenen Zeiten der deutschen Industrie erinnern.
Über Kilometer erstreckt sich das Stahlwerk am Rande von Eisenhüttenstadt. Wer in die Stadt will, muss zunächst an den zahlreichen Toren und Zufahrten der Fabrik, an dutzenden Lkw mit polnischen Kennzeichen und Arbeiter:innen in Blaumännern, die von oder zur Schicht gehen, vorbei.
Das Werk von ArcelorMittal in Eisenhüttenstadt
Die Stadt im deutschen Brandenburg, unweit der polnischen Grenze, gibt des de facto nur, weil es das Stahlwerk gibt.
Im Jahr 1950 fasste die Sozialistische Einheitspartei (SED) den Beschluss, hier ihren "Friedensstahl" - mit Erz aus der Sowjetunion und Koks aus Polen - produzieren zu lassen. Für die Arbeiter:innen wurde eine Planstadt, nach dem Tod des Diktators 1953 "Stalinstadt" genannt, am Reißbrett gebaut.
"Dieser Stahl ist hier gekocht. So wird es bleiben!", steht auf einem Denkmal beim Busbahnhof.
"Dieser Stahl ist hier gekocht. So wird es bleiben!", steht auf einem Denkmal in der Stadt. Von nahezu überall in Eisenhüttenstadt sind Rauch und Dampf des Werks, die sich in der kalten Luft langsam in Richtung der grauen Wolken bewegen, zu sehen. Doch über der deutschen Industrie schwebt derzeit eine schwarze Wolke.
Schwarze Wolken über der Industrienation
Olaf Scholz (SPD) und Robert Habeck (Grüne) besuchten im Wahlkampf demonstrativ Stahlwerke. Friedrich Merz (CDU) und Alice Weidel (AfD) werfen den beiden die "Deindustrialisierung" Deutschlands vor. Aber wie wirkt sich das alles auf den Wahlkampf in Eisenhüttenstadt aus? Wie reagiert man auf die große Politik im Kleinen?
Das Beispiel Eisenhüttenstadt zeigt, wie sich die großen Debatten in der Alltagswelt abspielen – und wie komplex, widersprüchlich und irrational Wahlentscheidungen sein können.
Infos zu Eisenhüttenstadt
- 1950 wurde von der DDR-Regierung der Beschluss zum Bau des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) und der Planstadt gefasst.
- 1953 wurde die Stadt "Stalinstadt" genannt.
- EKO in Eisenhüttenstadt wurde zum wichtigsten Stahlhersteller der ehemaligen DDR. Aus der ganzen DDR zogen Menschen zu.
- 1988 wurde ein Einwohnerhöchststand von 53.000 Einwohner:innen erreicht.
- 1961 wurde aus "Stalinstadt" Eisenhüttenstadt.
- Nach der Wende wurde das Werk an das belgische Unternehmen Cockerill-Sambre verkauft und hieß fortan EKO Stahl GmbH.
- Seit 2002 gehört die EKO Stahl GmbH gemeinsam mit ihrem damaligen belgischen Mutterkonzern zur luxemburgischen Arcelor-Gruppe.
- Seit der Fusion von Arcelor mit der niederländischen Mittal Steel Company 2006 heißt das Unternehmen ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH.
- ArcelorMittal ist der weltweit zweitgrößte Stahlproduzent.
Corona, Russlands Angriff auf die Ukraine, hohe Energiepreise, billige Konkurrenz aus Asien, schwächelnde Autoindustrie sowie eine schwache Baubranche, also schwindende Absatzmärkte treffen die Stahlbranche hart. Dazu kommen zukünftig hohe Emissionskosten oder eine teure Umstellung auf grünen Stahl – und Donald Trumps Zölle.
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Thyssenkrupp, Deutschlands größter Stahlproduzent, will bis 2030 rund 11.000 Stellen abbauen oder auslagern. Beim weltweit zweitgrößten Stahlunternehmen, ArcelorMittal, das in Deutschland Werke in Bremen, Duisburg, Hamburg und eben hier in Eisenhüttenstadt führt, ist die Lage zumindest angespannt. Wegen hoher Stromkosten wurde die Produktion im Dezember stundenweise gestoppt.
Robert Habeck auf einem Plakat in Eisenhüttenstadt.
1,3-Milliarden-Zusage
Symbolisch überreichte Habeck hier einen Scheck mit der Förderzusage von rund 1,3 Milliarden Euro. Die rot-grüne Strategie: Mit der Investition soll die Produktion auf Wasserstoff und Öko-Strom umgestellt werden. Deutscher Stahl soll also grün und zukunftsfit werden und damit konkurrenzfähig bleiben.
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Ob das Unternehmen annimmt, hat es noch nicht entschieden. Man brauche zunächst niedrigere Stromkosten, hieß es. Womöglich wartet man aber ab, was die nächste Regierung macht, von der ArcelorMittal innerhalb der ersten 100 Tage einen Stahl-Aktionsplan fordert.
Plakat von Friedrich Merz in Eisenhüttenstadt.
Der laut Umfragen nächste Bundeskanzler Friedrich Merz setzt beim Klima auf "Technologieoffenheit". In der Ampel rätselte man schon, was das bedeuten solle.
Beim Thema Stahl ruderte Merz nach heftiger Kritik zuletzt zurück. Er befürworte die Umstellung auf eine grüne Produktion nun doch.
Die AfD hingegen lehnt die Förderung total ab – man sollte ihr zu Folge weiter auf konventionelle Energiequellen setzen. Außerdem ist die Partei mehr oder weniger direkt für einen EU-Austritt. Für die Exporte wohl nicht förderlich.
Grüner Kampf gegen Windmühlen
Trotz Habecks Plänen, Milliarden in das Stahlwerk zu pumpen, ist es in Eisenhüttenstadt die AfD, die gut ankommt, und nicht die Grünen.
Ans Büro der Partei in Eisenhüttenstadt wurde der rechtsextreme Code "1161" gesprüht. "Anti-Antifaschistische Aktion", soll das heißen. Die Zahlen stehen für die Reihung der Anfangsbuchstaben im Alphabet. Nur die erste Eins haben die Grünen wieder übermalt.
Carolin Hilschenz und Ronny Böhme
Die grünen Lokalpolitker:innen Carolin Hilschenz und Ronny Böhme berichten, dass auch schon ihre Briefkästen gesprengt worden seien. Dass sie auf Wahlkampftour bespuckt oder angepöbelt werden, sei hier "Standard". Dass ihre Plakate verschwinden, sowieso.
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Und selbst, wenn bei der letzten Tour im Häuserwahlkampf alle freundlich und nett gewesen seien, im Wahlergebnis werde sich das in diesem Landkreis nicht widerspiegeln, so Böhme.
Laut Umfragen dürften die Grünen auf Bundesebene im Vergleich zu den anderen Ampel-Parteien wenig Verluste einfahren. Doch hier im Osten führe man "einen Kampf allein auf weiter Flur. Gegen Windmühlen", sagt Hilschenz.
Deutschland und der Stahl
- Deutschland hat die größte Stahlindustrie Europas und die siebtgrößte weltweit.
- Sie erwirtschaftete im Jahr 2022 einen Umsatz von rund 55 Milliarden Euro.
- Rund 90.000 Menschen dürften in der Stahlbranche beschäftigt sein.
- Rund zwei Drittel der Arbeitsplätze in Deutschlands Industrie – etwa vier Millionen – hängen laut "Wirtschaftswoche" an stahl-intensiven Branchen.
- Zu den größten Stahlproduzenten in Deutschland zählen Thyssenkrupp, ArcelorMittal und die Salzgitter AG.
Im Wahlkreis Oder-Spree II, zu dem Eisenhüttenstadt gehört, holte die in Brandenburg als rechtsextremer Verdachtsfall eingestufte AfD bei der Landtagswahl im September 2024 mit 37,1 Prozent der Stimmen Platz 1. Erst mit großem Abstand folgte die SPD, die Grünen wählten nur 1,3 Prozent der Wahlberechtigten.
Der "Kultstatus" der AfD
Die AfD habe hier "Kultstatus", sagen die beiden Grünen. Die Rechtsaußenpartei könne aufstellen, wen sie wolle und sagen, was sie wolle. Sie trete auch "aktiv gegen das Stahlwerk" auf.
Rational seien die Erfolge nicht zu erklären, so Hilschenz. Das wichtigste Thema im Wahlkampf sei nicht die Industrie, sondern die Migration. "Die AfD tut so, als laufe hier jeden Tag ein 'Messermann' herum".
Hilschenz, 30 Jahre alt, ist hauptberuflich Lehrerin und bekommt auch in der Schule regelmäßig Fremdenfeindlichkeit und Rassismus mit. "Wie in den 90ern" würden nun auch wieder "Glatzköpfe" herumlaufen, schildern die Politiker:innen.
Dass es keine Probleme gibt, bestreiten die beiden gar nicht. Es gibt in Eisenhüttenstadt ein großes Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete. In den nicht-renovierten DDR-Gebäuden komme es auch zu "Ghettobildung".
Doch die AfD werde diese Probleme nicht lösen, sagen die beiden. Die rund 4.000 Kilometer lange Grenze Deutschlands könne man nicht schließen – schon jetzt stehen die Lkw an der Grenze zu Polen kilometerlang im Stau. Im örtlichen Krankenhaus werden Ärzt:innen aus Syrien dringend gebraucht.
Allgegenwärtige DDR
Die Menschen hier würden sowieso dazu neigen, alles schlecht zu reden, verteidigt Böhme die Politik seiner Partei im Bund. Das bekommt der 42-Jährige auch als Werkstoffprüfer im Stahlwerk mit: Wem es am besten geht – "und dazu gehören die Werksarbeiter für unsere Verhältnisse" – der jammere am lautesten. Schuld daran sind für Böhme auch die DDR- und Wendeerfahrungen der Eisenhüttenstädter:innen.
Die DDR-Vergangenheit ist in der Stadt, die Schauspieler Tom Hanks einst bei einem Besuch als "Iron Hut City" bewarb, allgegenwärtig. Diese Stadt ist nicht entstanden, sie wurde von der DDR aus dem Boden gestampft. Es sollte ein Paradies für die Stahl-Arbeiter:innen sein.
Das Rathaus in Eisenhüttenstadt
Die Innenstadt mit seinen Bauten im Stil des sozialistischen Klassizismus, den großen, grünen Innenhöfen und seinen breiten, schnurgeraden Straßen, ist heute Deutschlands größtes Flächendenkmal.
Einen Kirchturm gibt es nicht, dafür Monumentalbauten und große Mosaike mit DDR-Motiven. Neben kunstvoll verzierten und renovierten Wohnkasernen prägen aber auch zerbröckelnde Plattenbauten das Stadtbild.
Nach der Wende der Verfall
1953 hatte die Stadt 2.400 Einwohner:innen, im Jahr 1988 wurde mit über 53.000 ein historischer Höchststand erreicht. 2023 lebten in der Stadt nur noch rund 24.500 Menschen – Tendenz sinkend. Nach der Wende kam der Verfall – vor allem die Jungen gingen weg. Die breiten Straßen sind teils gespenstisch leer, unterwegs sind vor allem Rentner:innen.
Bürgermeister Frank Balzer (SPD)
Die Stadt wirbt derzeit gezielt um Zuwanderer, aber nicht aus dem Ausland. Junge Familien aus Berlin, die Ruhe suchen, sind das Zielpublikum, erzählt man im Rathaus.
Auch laut Bürgermeister Frank Balzer (SPD) ist Migration im Bundestagswahlkampf eines der aktuellsten Themen. Dieses Thema würde auch das Positive "überlagern", sagt er. Die vergangenen Wahlergebnisse sind für ihn "nicht unbedingt erfreulich".
Auch er erklärt sie einerseits mit den Wendeerfahrungen. 11.000 Menschen hätten einmal im Stahlwerk gearbeitet, heute seien es circa 2.500 und nochmal rund 2.000 bei Dienstleistern ums Werk, die damals ausgegliedert wurden. "Eine ganze Generation" sei nach der Wende weggegangen, sagt Balzer. Der Stadt fehlte Geld für Investitionen in die Infrastruktur.
Die Menschen hier hätten sich bis Mitte der 90er als "Menschen 2. Klasse" gefühlt. Und Demokratie müsse man auch erst lernen, so der Bürgermeister. Man müsse die Menschen mitnehmen. Nicht alles, was eine andere Meinung hat, in eine bestimmte Ecke stellen, sagt er.
Kritik an der eigenen Partei
Andererseits macht der SPD-Politiker die Bundespolitik für die Situation vor Ort mitverantwortlich und übt dabei Kritik an der eigenen Partei. Die Kommunen würden in Sachen Migration im Stich gelassen, meint er. Und die SPD hätte zu viele Gedanken von den Grünen übernommen.
Mosaik im Rathaus von Eisenhüttenstadt
Er wünscht sich eine Außenpolitik, die auch auf die Auswirkungen im Inland Acht gebe. Damit die Transformation der Stahlindustrie klappt, müssten auch die Rahmenbedingungen stimmen, spielt er wohl auf Russland-Sanktionen und Energiepreise an.
"Das Stahlwerk ist die Stadt"
Erst am vergangenen Samstag feierten Stadt und Werk 75 Jahre Eisenhüttenstadt. Vor Ort waren auch Vertreter:innen von ArcelorMittal. "Das Stahlwerk ist die Stadt", sagt Bürgermeister Frank Balzer. Und was seine Zukunft angehe, sei er "Optimist". Es gebe "keinen Plan B".
Eingang zum Stahlwerk, das einst EKO Stahl hieß
Schließlich arbeitete auch er selbst im Werk, seine Familie nun schon in vierter Generation. Und er hoffe, dass seine Enkel hier einmal grünen Stahl herstellen werden.
Als die letzten Sonnenstrahlen vom Stahlwerk reflektiert werden, hört das Wummern der Maschinen längst nicht auf. Der Arbeitsalltag jener, die sie bedienen, hängt auch vom Ausgang der Wahl am Sonntag ab. Dann wird entschieden, auf welche Klima-, Standort- und Industriepolitik Deutschland künftig setzt - und ob die Stahlproduktion in Eisenhüttenstadt an die goldenen Zeiten anknüpfen kann.
- Alle Informationen zu deutschen Bundestagswahl finden Sie hier.
Video: Diese Themen beschäftigen Deutschland
"Standard"-Journalist Eric Frey im PULS 24 Interview.
Zusammenfassung
- Wer Linz als "Stahlstadt" bezeichnet, war noch nie in Eisenhüttenstadt. Hier, im deutschen Bundesland Brandenburg, an der polnischen Grenze, dreht sich alles um die Eisenlegierung.
- Die Stadt gibt es nur, weil sie die DDR um das heutige Werk von ArcelorMittal gegründet hat.
- Wie die deutsche Industrie insgesamt leidet auch die Stahlbranche.
- Im Wahlkampf überschattet das Thema Migration hier dennoch alles. Es profitiert die AfD.
- Eine PULS 24 Reportage aus Ostdeutschland vor der Bundestagswahl am Sonntag.