Brexit-Gespräche nach Affront Londons im Krisenmodus
Großbritannien will den Brexit-Vertrag in Teilen aushebeln und hat damit eine schwere Vertrauenskrise im Verhältnis zur EU ausgelöst. Die ohnehin äußerst zäh verlaufenden Gespräche über die künftigen Beziehungen stehen nun vor einer harten Belastungsprobe. Hintergrund ist ein geplantes Gesetz der britischen Regierung zum Binnenhandel, das dem Brexit-Vertrag mit der EU in Teilen zuwiderläuft.
Knackpunkt ist, dass damit Nordirland auch nach dem Auslaufen der Brexit-Übergangsfrist zum Jahresende ein "uneingeschränkter Zugang" zum britischen Markt garantiert werden soll. Im sogenannten Nordirland-Protokoll hatte sich London jedoch zur Einhaltung von EU-Vorschriften verpflichtet - insbesondere soll der Zollkodex der Europäischen Union für alle von der Insel nach Nordirland verbrachten Waren gelten.
In der Gesetzesvorlage für einen britischen Binnenmarkt, die Reuters einsehen konnte, ist nun explizit vorgesehen, dass sich die Regierung über Bestimmungen des Protokolls hinwegsetzen kann - etwa indem Ausfuhrerklärungen oder andere Exportvorgänge einseitig geändert werden. Die Vorlage muss von beiden Häusern des Parlaments gebilligt werden, bevor sie in Kraft treten kann.
Sollte das Gesetz verabschiedet werden, wären auch die Bedingungen für den Fortbestand der grünen Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Staat Irland infrage gestellt. Dies könnte neue Gewalt in dem lange Zeit von Konfessionskonflikten geschüttelten Nordirland heraufbeschwören.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigte sich alarmiert. Verträge müssten eingehalten werden und seien die Grundlage für ein "künftiges gedeihliches Verhältnis". EU-Ratspräsident Charles Michel mahnte: "Internationales Recht zu brechen, ist inakzeptabel." Deutschland besteht ebenso wie Frankreich darauf, dass London die im Vertrag mit der EU gemachten Zusagen zur irisch-nordirischen Grenze einhält. In einem Krisentreffen sollte der Streitpunkt zwischen der EU und Großbritannien ausgeräumt werden.
Ein Sprecher von Premierminister Boris Johnson sagte, das Nordirland-Protokoll sei seinerzeit unter Zeitdruck verfasst worden und enthalte "Unklarheiten". Es sei in der Erwartung formuliert worden, dass man in Folgeabkommen zwischen der EU und Großbritannien verschiedene Aspekte klarstellen könnte. Johnson sagte vor dem Unterhaus, das Gesetz solle als "Sicherheitsnetz" gegen extreme Auslegungen des Protokolls dienen, die den Frieden in der Provinz Nordirland gefährden könnten. Details nannte er nicht.
Großbritannien ist Ende Jänner aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende gilt aber noch eine Übergangsphase, in der die künftigen Beziehungen etwa im Bereich Handel geklärt werden sollen. Wie aus Brüssel verlautete, sollten die Gespräche weitergehen, auch wenn die Atmosphäre nun gespannt sei: "Die EU wird den Verhandlungstisch sicherlich nicht verlassen", sagte ein EU-Diplomat, der anonym bleiben wollte. Gelingt keine Einigung, droht ein ungeregelter Austritt. Experten warnen in einem solchen Fall vor schweren wirtschaftlichen Folgen für beide Seiten.
Johnson hatte jüngst erklärt, Großbritannien werde mit der EU konstruktive Verhandlungen führen. Sollte aber kein Abkommen zustande kommen, sei er nach dem Ende der Übergangszeit zu Beziehungen zur EU nach dem Vorbild Australiens bereit. Zwischen Australien und der EU existiert kein umfassendes Handelsabkommen. Ihr Handel wird weitgehend nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO abgewickelt.
Der Minister für Unternehmen, Energie und Industriestrategie, Alok Sharma, sagte, Großbritannien sei auch bereit, sich nach dem Ende der Brexit-Übergangsfrist an die von der WTO aufgestellten Subventionsregeln zu halten. Zuletzt hatte es bei den Gesprächen mit der EU insbesondere bei den Themen Beihilfen und Fischereirechte gehakt.
Die deutsche Bundesregierung zeigte sich besorgt über die Pläne der britischen Regierung, einseitig Änderungen am Brexit-Abkommen vorzunehmen. "Wir sehen die Ankündigung mit Sorge", sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes am Mittwoch in Berlin.
Das Brexit-Abkommen sei eine von beiden Vertragspartnern unterzeichnete Grundlage, und die Regierung in Berlin vertraue nach wie vor darauf, dass die britische Regierung das Abkommen umsetze, sagte die Ministeriumssprecherin in Berlin.
Vize-Regierungssprecherin Martina Fietz betonte, für die deutsche Bundesregierung gelte "grundsätzlich", "dass wir das Abkommen als bindend erachten und dass wir davon ausgehen, dass die britische Seite das genauso sieht".
Zusammenfassung
- Knackpunkt ist, dass damit Nordirland auch nach dem Auslaufen der Brexit-Übergangsfrist zum Jahresende ein "uneingeschränkter Zugang" zum britischen Markt garantiert werden soll.
- Im sogenannten Nordirland-Protokoll hatte sich London jedoch zur Einhaltung von EU-Vorschriften verpflichtet - insbesondere soll der Zollkodex der Europäischen Union für alle von der Insel nach Nordirland verbrachten Waren gelten.