Aserbaidschanischer Artilleriebeschuss rund um die Stadt Stepanakert in Berg-KarabakhAPA/AFP

Aserbaidschan startet Invasion: Erste tote Zivilisten in Berg-Karabach

Aserbaidschan hat einen Angriff auf die Region Berg-Karabach gestartet. Die in Armenien ansässige Vertretung Berg-Karabachs sprach von einer "groß angelegte Militäroffensive". Die ersten zivilen Opfer wurden mittlerweile gemeldet.

Aserbaidschan startete am Dienstag die Invasion der Region Berg-Karabach. Die Einsätze richteten sich gegen armenische Kräfte, teilte das Verteidigungsministerium in Baku mit.

In Stepanakert, der Hauptstadt der zwischen beiden Ländern seit Jahrzehnten umstrittenen Region, waren nach Angaben eines AFP-Reporters Explosionen zu hören. Die in Armenien ansässige Vertretung Berg-Karabachs sprach von einer "groß angelegte Militäroffensive".

Mehrere Städte Berg-Karabachs seien nach Angaben örtlicher Behördenvertreter von Aserbaidschan angegriffen worden. "Im Moment stehen die Hauptstadt Stepanakert und andere Städte und Dörfer unter intensivem Beschuss", so die Vertretung auf Facebook.

Mehrere Zivilisten getötet

Infolge des aserbaidschanischen Militäreinsatzes sind in der Konfliktregion Berg-Karabach laut Angaben von vor Ort mehrere Zivilisten getötet und verletzt worden.

Den bisherigen Informationen zufolge gebe es Dienstagabend mindestens 25 Tote, darunter zwei Zivilisten, und mindestens 138 Verletzte, so der Menschenrechtsbeauftragte der international nicht anerkannten Republik, Gegam Stepanjan, am Dienstag auf X (vormals Twitter).

Auf Videos, die in sozialen Medien veröffentlicht wurden, sind Luftalarmsirenen zu hören:

Auf anderen Aufnahmen ist ein Wohngebiet zu sehen, das von dem Beschuss getroffen wurde.

Proteste in Eriwan

Aserbaidschan fordert als Bedingung für das Ende seines Militäreinsatzes die Niederlegung der Waffen und die Abdankung der armenischen Führung in Berg-Karabach. "Die illegalen armenischen Militärverbände müssen die weiße Flagge hissen und alle Waffen abgeben, und das ungesetzliche Regime muss abdanken", heißt es in einer am Dienstag von örtlichen Medien verbreiteten Erklärung der Präsidialverwaltung in Baku.

Anderenfalls würden die Kampfhandlungen bis zum Ende geführt, betonte die Führung der autoritär geführten Ex-Sowjetrepublik.

Als Reaktion auf den aserbaidschanischen Beschuss von Berg-Karabach kam es in Armeniens Hauptstadt Eriwan zu Protesten. Die Demonstranten forderten von ihrem Regierungschef Nikol Paschinjan ein entschiedeneres Vorgehen sowie Unterstützung der armenischen Bewohner Berg-Karabachs.

Armenien fordert Hilfe von UN-Sicherheitsrat und Russland

Armenien hat nach Beginn der Angriffe nun den UN-Sicherheitsrat und Russland zu Maßnahmen zur Beendigung des Militäreinsatzes aufgefordert. Es seien "klare und eindeutige Schritte zur Beendigung der aserbaidschanischen Aggression" nötig, heißt es in einer von armenischen Medien verbreiteten Mitteilung des Außenministeriums in Eriwan. Regierungschef Nikol Paschinjan berief den nationalen Sicherheitsrat ein.

EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilte in einem Statement die militärische Eskalation. Er forderte die "sofortige Einstellung der Feindseligkeiten" und appellierte an Aserbaidschan, die militärischen Aktivitäten zu beenden. Die EU setze sich weiterhin für einen Dialog ein, so Borrell.

Sechs Tote bei Minenexplosion

Zuvor waren aserbaidschanischen Angaben zufolge sechs Menschen bei Minenexplosionen getötet worden. Aserbaidschanische Sicherheitskräfte hatten mitgeteilt, zwei Zivilisten seien auf einer Straße in Richtung der Stadt Schuscha im aserbaidschanisch kontrollierten Teil Berg-Karabachs durch eine von armenischen "Sabotagegruppen" gelegte Mine getötet worden. Vier Polizisten wurden demnach später auf dem Weg zum Explosionsort bei einer weiteren Minenexplosion getötet.

Nach eigenen Angaben hat Baku Russland und die Türkei, die Schutztruppen bzw. Beobachter in der Konfliktregion stellen, über den "Anti-Terror-Einsatz" informiert. Es handle sich um eine "Anti-Terror-Operation" lokalen Charakters zur "Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung" in der Region.

Aserbaidschan will Rückzug armenischer Truppen

Man wolle den nach dem letzten Berg-Karabach-Krieg 2020 im Waffenstillstand festgeschriebenen Rückzug armenischer Truppen aus dem Gebiet durchzusetzen. Es werde nur auf militärische Ziele geschossen, behauptete das aserbaidschanische Verteidigungsministerium. Den Angaben aus Baku zufolge wurden zuvor zunächst eigene Stellungen von armenischer Artillerie angegriffen und mehrere Soldaten verletzt.

Nach weiteren Angaben des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums wurden humanitäre Korridore eingerichtet, damit Zivilisten die umkämpften Gebiete verlassen könnten. Das aserbaidschanische Außenministerium teilte mit, der einzige Weg, um Frieden herzustellen, sei der komplette Abzug armenischer Kräfte aus Berg-Karabach. Das armenische Verteidigungsministerium erklärte, man habe keine Kräfte in Berg-Karabach.

Armenien hatte sich zuletzt wegen des großen Aufmarsches aserbaidschanischer Truppen an seinen Grenzen besorgt gezeigt. Auf der anderen Seite in Aserbaidschan nannte das Außenministerium in Baku wiederum die Konzentration armenischer Truppen an der Grenze "die größte Bedrohung für die Stabilität der Region".

Aserbaidschan isolierte die Region

Im vergangenen Jahr erhöhte Aserbaidschan bereits den Druck auf die Region, in der rund 120.000 Menschen leben. Der Transport von Lebensmitteln, Medizinprodukten und anderen lebenswichtigen Gütern in die Region wurde stark eingeschränkt. 

Das christlich-orthodoxe Armenien und das muslimische Aserbaidschan, beides Ex-Sowjetrepubliken, sind seit langem verfeindet. Noch zu Sowjetzeiten wurde das zwar mehrheitlich von Armenier:innen, aber auch von Aserbaidschaner:innen bewohnte Gebiet Aserbaidschan zugesprochen. Auf beiden Seiten kam es immer wieder zu Pogromen, Verfolgungen, Fluchtbewegungen. 1991 erklärte sich Bergkarabach selbst zur unabhängigen Republik, was international bis heute nicht anerkannt wird. 

In einem zweiten Krieg 2020 siegte das mit Geld aus dem Öl- und Gasgeschäft hochgerüstete Aserbaidschan und eroberte Teile von Berg-Karabach und eigenes Territorium zurück. In kürzeren Militäraktionen danach besetzte Baku auch etwa 150 Quadratkilometer armenisches Staatsgebiet.

Heikle geopolitische Lage

Nach dem Zerfall der Sowjetunion etablierte sich Russland als Schutzmacht Armeniens. Doch das hat sich in den letzten Jahren geändert. "Aserbaidschan ist es gelungen, Russland ein Stück weit von Armenien wegzuziehen und Russland zu einer neutralen Position zwischen beiden Ländern zu bewegen", sagte dazu Politikwissenschaftler Hannes Meißner im PULS 24 Interview. 

Anfang September kündigte dann Armenien eine Truppenübung mit den USA an. "Es ist ein kleiner, symbolischer Akt mit durchaus aber großer Sprengkraft aufgrund der geopolitischen Gesamtkonstellation", meinte Meißner noch vor der erneuten Eskalation der Lage. 

Noch kritischer wird die Lage durch den wohl wichtigsten Verbündeten Aserbaidschans: den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Und auch in der EU steigt die Bedeutung des Staates am Kaspischen Meer. "Aserbaidschan ist für Deutschland und die Europäische Union ein Partner von wachsender Bedeutung", sagte etwa der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte März 2023 in Berlin.

Gas aus Aserbaidschan für die EU

Gas aus Aserbaidschan steht seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in der EU hoch im Kurs. Im vergangenen Jahr reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Baku, um eine Absichtserklärung für mehr Gaslieferungen zu unterzeichnen. Zuvor kamen mehr als acht Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr aus Aserbaidschan in die EU. Bis 2027 sollten es 20 Milliarden werden.

ribbon Zusammenfassung
  • Aserbaidschan hat einen Angriff auf die Region Berg-Karabach gestartet.
  • Nach eigenen Angaben am Dienstag handelt es sich um "Anti-Terroreinsätze" in der Region Berg-Karabach.
  • Die Einsätze richteten sich gegen armenische Kräfte, teilte das Verteidigungsministerium in Baku mit. Zuvor waren aserbaidschanischen Angaben zufolge sechs Menschen bei Minenexplosionen getötet worden.
  • Die ersten zivilen Opfer wurden mittlerweile gemeldet.
  • Das christlich-orthodoxe Armenien und das muslimische Aserbaidschan, beides Ex-Sowjetrepubliken, sind seit langem verfeindet.