Zwischen Bibel und Piraten: Mircea Cartarescus "Theodoros"
Cartarescu, 1956 in Bukarest geboren, hat mit der "Orbitor"-Trilogie seiner Heimatstadt Bukarest ein literarisches Denkmal gesetzt und in seinen Büchern die Geschichte seines Landes, seine eigene Kindheit und eine wilde, an verschiedenste literarische Traditionen anknüpfende Fantasie zu Erzählungen von großer Sogwirkung und hoher sprachlicher Brillanz verwoben. Rumänien bzw. die Walachei ist diesmal nur Nebenschauplatz. Ein Großteil der Handlung spielt im heutigen Äthiopien, in der griechischen Inselwelt und im biblischen Jerusalem. Zeit- und Handlungsebenen sind in bester postmoderner Manier in drei Büchern zu je elf Kapiteln 33 miteinander verschnitten. Da einen Überblick zu behalten, ist für die Leser nicht leicht.
Der Erzähler wendet sich direkt an den Titelhelden und verfügt nicht nur über umfassendes Wissen über ihn, sondern auch über seine Korrespondenz. Immer wieder wird aus Theodoros' Briefen an seine geliebte Mutter zitiert, in denen der in die weite Welt Hinausgezogene über seine Großtaten berichtet und dabei viel von seinem Naturell preisgibt. Der Bub ist ein Taugenichts, ein Prahlhans, ein brutaler Kerl, der sich für seine Erniedrigungen, als er einst als Sohn einer Wurmmittelverkäuferin verspottet und verprügelt wurde, an der gesamten Menschheit rächen will. Er wird es weit bringen - zum Piraten und sogar zum Kaiser von Äthiopien, der sich in grotesker Selbstüberschätzung sogar mit Queen Victoria anlegt. Das hätte er lieber sein lassen.
Cartarescu beginnt "Theodoros" mit dem Ende seiner Hauptfigur. Ein guter Schachzug, denn er führt sogleich mitten in eine Atmosphäre, die uns über 650 Seiten lang nicht mehr verlassen wird: Die Luft ist erfüllt von Geschrei und Gemetzel, es riecht nach Blut, Pulverdampf und Gewürzen, es wird ohne Unterlass gemordet und geschändet. Gäbe es eine Triggerwarnung zu Beginn des Buches, fiele diese wohl nicht viel kürzer aus als das Orientierung bietende Glossar an seinem Ende.
"Theodoros, die Hauptperson meines Romans, hat es tatsächlich gegeben", schreibt der Autor, und auch der Tod dieses Räubers und Piraten, der sich 1855 zum "König der Könige" von Abessinien krönen ließ, ist überliefert: 1868 nahm er sich unmittelbar vor Gefangennahme durch britische Truppen in seiner Festung Magdala das Leben. Die Geschichte der Strafexpedition, zu der sich Queen Victoria entschloss, nachdem Theodor II. englische Missionare gefangen genommen hatte, ist abenteuerlich. Der Aufwand war gigantisch. Um nach Magdala vorzustoßen, musste erst ein Hafen gebaut, Brücken und eine Bahnlinie durch unwegsames Gelände errichtet und eine Vielzahl kriegerischer Völker in Schach gehalten werden. Ein riesiger Kraftakt, nur um die globale Vormachtstellung des britischen Empire zu untermauern. Was für eine Geschichte! Cartarescu interessiert sich nur am Rande für sie.
Dem Autor, schon 2015 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet, gelingt es zwar, ganz nebenbei ein wenig schmeichelhaftes, aber realistisch anmutendes Bild von Queen Victoria zu zeichnen, nimmt aber neben dem größenwahnsinnigen Unhold Theodoros vor allem zwei Persönlichkeiten in den Blick, von denen die Bibel erzählt: den weisen König Salomon und die Königin von Saba. Ihren Besuch in Jerusalem, von dem die Königin mit einem Sohn nach Äthiopien heimkehrte (und damit den Anspruch der Dynastie, direkt von König Salomon abzustammen, begründete), beschreibt Cartarescu in aller Ausführlichkeit. Pomp, Bombast und Schwülstigkeit kulminieren schließlich in der letzten Nacht vor der Abreise der liebreizenden, doch keuschen Königin, die nun doch zur Liebesnacht wird.
Was jedoch als literarische Maske für Teile des Romans schlüssig wirken könnte, eine aufgeblasene, pathetische Sprache, die bewusst verwendet wird, um in einem verschlungenen Ganzen einzelne Stränge abzugrenzen, durchzieht den ganzen Roman, in dem nicht nur die männliche Gewalt, sondern auch das Geschlechterverhältnis archaisch-heroisch auf eine Weise beschrieben wird, in der man gerne mehr Ironie und weniger Misogynie entdecken würde. Sex spielt in diesem Buch eine große Rolle. Lustvolle Vereinigungen und brutale Vergewaltigungen gibt es gefühlt alle paar Seiten. Das ermüdet. Und enttäuscht.
Denn natürlich ist Mircea Cartarescu tatsächlich jener Magier der Sprache, als den ihn etwa "Le Monde" rühmt, doch diese Magie blitzt in diesem prallen Abenteuerbuch, das Zeit und Raum kühn überwindet, Tradition und Religion mühelos verbindet im Einzelnen aber immer wieder auf der Stelle tritt, nur manchmal auf. Etwa im Zentrum des Buches.
Dort gibt es einen Augenblick, in dem alles rasende Treiben plötzlich still steht. Auf den Piraten Theodoros ist aus nächster Nähe eine Muskete abgefeuert worden. Moment!, greift der Erzähler ein. Das darf nicht sein! Ich habe doch noch einiges zu erzählen! Wie Cartarescu auf den nächsten Seiten in den Flug der Kugel und den Lauf des Schicksals eingreift, indem er buchstäblich das Universum wechselt und die Kugel zum Planeten werden lässt, dessen Bewohner den drohenden Zusammenstoß mit dem riesigen, immer näher kommenden Himmels-, bzw. Piratenkörper verhindern wollen, das ist tatsächlich unnachahmlich. Und wer bis zum Ende durchhält, wird belohnt. Da geht Cartarescu dann aufs Ganze. Als hätte er etwas gutzumachen ...
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Mircea Cartarescu: "Theodoros", Übersetzt aus dem Rumänischen von Ernest Wichner, 672 Seiten, Zsolnay Verlag, 39,10 Euro)
Zusammenfassung
- Mircea Cartarescus Roman 'Theodoros' ist 2022 im Original erschienen und nun auf Deutsch verfügbar.
- Die Handlung spielt in Äthiopien, der griechischen Inselwelt und im biblischen Jerusalem und umfasst 672 Seiten.
- Theodoros ist ein brutaler Pirat und Kaiser von Äthiopien, der sich mit Queen Victoria anlegt und 1868 stirbt.
- Das Buch beginnt mit dem Ende von Theodoros und ist geprägt von Gewalt, Gemetzel und einer pathetischen Sprache.
- Cartarescu bezieht biblische Figuren wie König Salomon und die Königin von Saba ein und zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild von Queen Victoria.