"Schatten und Wind": Migrationsgeschichte der anderen Art
"Schatten und Wind" ist also ein Buch, das dazu geeignet ist, mit wachem Blick auf einen Einzelfall zu schauen und dabei Klischees über Bord zu werfen. Jeder Mensch ist so ein Einzelfall, und wenn der 1989 geborene Autor, der als Bub in eine kleine finnische Stadt kam, heute im schwedischen Malmö lebt und in beiden Ländern für sein Buch ausgezeichnet wurde, seinen achtjährigen Ich-Erzähler in kurzen Kapiteln aus seinem Leben berichten lässt, dann sind die erwarteten Integrationsschwierigkeiten gar kein großes Thema.
Da gibt es nämlich glücklicherweise Gunnel, die sich als Patin mit großer Begeisterung der Integration einiger vietnamesischen Familien widmet, und die Dolmetscherin Lan Pham, die zu einer echten Freundin der Mutter wird. Da gibt es schon genügend Sprachverwirrung in dem kleinen finnischen Jakobstad selbst, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Schwedisch spricht und beide Sprachen nach Belieben mischt. Und da gibt es vor allem Hieu, den älteren Bruder des Erzählers, der zur Leitfigur wird und dessen erste Beziehungen zu Mädchen der Jüngere fasziniert beobachtet.
Denn das kann der Bub: beobachten und beschreiben. Weil es mit dem richtigen Einordnen und Bewerten des Wahrgenommenen noch nicht ganz klappt, und weil Quynh Tran (nicht zu verwechseln übrigens mit einer gleichnamigen, u.a. für die "FAZ" aus Israel berichtenden Autorin und Journalistin) den Ton hervorragend trifft, erhält vieles in diesen poetischen Miniaturen einen märchenhaften, magischen Schleier, der die Konturen aufweicht. Hart sind allerdings die Schläge, mit denen die in einer Wäscherei arbeitende Alleinerzieherin ihren Ältesten bestraft, als dieser Geld, das er von Kunden ihres kleinen Verleihs vietnamesisch synchronisierter Videokassetten kassiert, anschließend gleich im Spielautomaten verspielt.
Nein, leicht hat es niemand in der Familie - aber jeder ist ein Einzelfall, und wie sich der verhält, hängt von vielen Faktoren ab. Warum etwa Hieu eines Tages seine neue Freundin schlägt und dafür zu 50 Stunden Sozialarbeit verurteilt wird, weiß niemand so recht. Die Psychologin rät ihm, in den Wald oder zum Strand zu gehen. Zur Beruhigung. Und ein Gedicht zu schreiben. Das liefert er auch ab, aber niemand sonst bekommt es zu sehen. Für den kleinen Bruder ein weiterer Grund zur Spekulation: Vielleicht kommt in ihm ja jener Leopard vor, der nach seinen Vorstellungen durch die finnischen Wälder streift und das Beerensammeln zu einem gefährlichen Abenteuer macht ...
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Quynh Tran: "Schatten und Wind", aus dem Schwedischen von Andreas Donat, Residenz Verlag, 256 Seiten, 24 Euro)
Zusammenfassung
- Der Debütroman 'Schatten und Wind' von Quynh Tran, einem gebürtigen Vietnamesen, der in Finnland aufwuchs, erzählt eine Migrationsgeschichte auf poetische Weise und wurde im Residenz Verlag veröffentlicht.
- Das Buch, das auf Schwedisch geschrieben und ins Deutsche übersetzt wurde, behandelt das Aufwachsen in einer finnischen Stadt und vermeidet klassische Migrationsprobleme.
- Wichtige Figuren im Roman sind Gunnel, die die Integration vietnamesischer Familien unterstützt, und die Dolmetscherin Lan Pham, während der ältere Bruder Hieu zur Leitfigur für den jungen Ich-Erzähler wird.