Regisseur Rasche: "Uns fehlt eine gemeinsame Sprache"
Für Rasche ist das 1779 entstandene Werk das Stück der Stunde. Dennoch versteht der 55-jährige Deutsche, dass es zuletzt selten auf den Spielplänen stand: "Schon Schiller kritisierte, dass das Stück nicht wirklich funktioniert. Die großen erzählerischen Passagen über Iphigenies Herkunft etwa schienen ihm zu blutleer, zu papieren. Und dann gibt es noch diesen sehr idealistischen, aus dem Humanismus stammenden Schluss, der einfach nicht mehr glaubwürdig war". Angesichts der zahlreichen Kriege und politischen Spannungsverhältnisse der Gegenwart sei dieser "naive Schluss aber doch schlagend, weil wir im Moment kaum noch die Möglichkeit haben, miteinander zu reden. Uns fehlt eine gemeinsame Sprache. Positionen verhärten sich und scheinen unüberwindbar oder alternativlos." Iphigenies "klarer und energischer Entschluss, zu kommunizieren und offenzulegen, was ihre tieferen Beweggründe sind, ist eines der ausschlaggebenden Argumente, warum man das Stück jetzt wieder aufführen muss. Wir dürfen uns den Humanismus, den sie vertritt, nicht nehmen lassen angesichts der Gleichgültigkeit und Verrohung. "
Als Iphigenie, die nach dem Mordversuch durch ihren Vater Agamemnon auf Tauris landet, wo sie später auf ihren von einem Fluch belasteten Bruder Orest trifft und mit ihm gemeinsam flüchten will, steht die seit dieser Spielzeit am Burgtheater wirkende Julia Windischbauer auf der Bühne, mit der Rasche zuletzt in Salzburg im "Nathan" zusammengearbeitet hat. So sei der Entschluss, das Stück zu inszenieren, "tatsächlich auch im Zusammenhang mit ihr entstanden", wie Rasche sagt. Schließlich sei der feministische Aspekt im Stück wesentlich: "Eine moderne junge Frau, die mit Klarheit und Schärfe ihre Gedanken ausdrückt, wie Julia dies kann, finde ich für die Rolle genau richtig." Julia ist eine von Ratio bestimmte, gleichzeitig aber die Emotionalität nicht negierende Schauspielerin." Um das gewaltvolle Drängen der männlichen Figuren, die alle mit dem Ziel, nur ihre eigenen Vorteile zu sichern, auf Iphigenie einreden, zu verdeutlichen, hat Rasche die Männeranzahl in seiner Inszenierung verdoppelt. Neben Daniel Jesch als Taurer-König Thoas, Ole Lagerpusch als Orest, Maximilian Pulst als Pylades und Enno Trebs als Arkas stellt er den Helden einen vierköpfigen Chor zur Seite. "Wie unter einem Brennglas vergrößert sich dadurch die bei Goethe schon angelegte Dominanz der männlichen Gesellschaft - und umso mehr die Kraft und Fähigkeiten der einen Frau."
Das Stück im kleineren Akademietheater zu zeigen, war sein eigener Wunsch. "Wenn man hier in Wien die 'Bakchen' gesehen hat, ist das jetzt extrem anders. Seither habe ich mehrere kleinere, reduziertere Arbeiten gemacht und den Fokus auf die Sprache, die Figuren gelegt." Dieser Umstand habe allerdings nichts damit zu tun, dass Theater zunehmend sparen müssen. "Es ist mittlerweile wirklich so, dass ich diese Mechanik, diese große Maschine nicht mehr möchte und auch nicht mehr brauche." Sowohl in "Iphigenie" als auch zuletzt bei "Nathan der Weise" schätze er "die Detailhaftigkeit, die Intelligenz der Gedanken von Goethe und Lessing, die Genauigkeit, das sich Einlassen und das Zuhören". Komplexen Argumentationen im Theater Raum zu geben, sei für ihn unerlässlich. Angesichts des immer weiter fortschreitenden Rechtsrucks und des Stimmengewirrs in der Gesellschaft glaubt er fest daran, hier auf der Bühne einen Beitrag leisten zu können. "Es ist nicht so, dass am Theater einem Publikum gepredigt wird, das sowieso bescheid weiß. Ich selbst mache beim Lesen der Texte immer wieder Entdeckungen, wo mir Vorgänge bewusster werden. Wissen und Bewusstsein sind zwei verschiedene Dinge." Und so sei das Theater "ein Ort, an dem das Bewusstsein wachsen kann, damit wir es verinnerlichen und damit leben und agieren können".
Überhaupt sieht Rasche die Theater zuletzt in einer Krise, "einer Orientierungslosigkeit", was sich im Vorjahr auch beim Berliner Theatertreffen gezeigt habe. "Ich finde, das Theater hat seine eigenen Mittel verraten, dem Schauspiel und seinen spezifischen Vorgängen nicht mehr vertraut, auch den Texten nicht." Stattdessen habe man sich damit zufrieden gegeben, mit seiner von der Bühne verkündeten Meinung scheinbar auf der richtigen Seite zu stehen, was im Vorjahr "ein Übergewicht" bekommen habe. In diesem Jahr nehme er eine "Korrektur" wahr, es seien "wieder viel mehr dramatische Texte, mehr Schauspielerei" vertreten als im Vorjahr. Das Sich-wieder-Finden der Institution Theater hält er für immens wichtig, denn "so viele öffentliche Institutionen oder Organe versagen ja zurzeit. Ich glaube, das Theater hat jetzt das Potenzial, seine Identität zu festigen und wieder ein Ort zu sein, wo Themen vorherrschen, die dringend diskutiert werden müssen".
Nach der Pandemie hätten viele Häuser den Fehler gemacht, das Publikum mit leichten Stoffen zurückgewinnen zu wollen. "Und dann kam der Angriffskrieg auf die Ukraine. Und die Theater konnten gar nicht so schnell reagieren, weil die Mühlen so langsam mahlen." Was muss Theater heutzutage können? "Es geht in erster Linie nicht um die eigene Handschrift eines Intendanten oder einer Intendantin, sondern um einen klaren Anspruch, sich an politischen, sozialen Diskussionen zu beteiligen. Die Aufgabe liegt darin, Menschen ein Forum zu bieten, um zu kommunizieren und sich eine Meinung zu bilden." Zudem müssten sich laut Rasche die Strukturen ändern. "Die Theatermacher geraten immer mehr unter Druck, sich den ökonomischen Anforderungen, dass beispielsweise jeden Abend gespielt werden und das Haus voll sein muss, zu unterwerfen. Es gibt immer weniger Raum, sich zu entwickeln. Es gibt immer weniger Raum, sich zu verfeinern."
Er verstehe, dass große Häuser wie das Burgtheater jeden Abend spielen müssen ("Das ist ein klassisches Repertoirehaus, für das auch die Finanzen bereitstehen"), aber bei anderen Häusern wie etwa dem Volkstheater "bin ich mir nicht sicher, ob die Spielverpflichtung und der Blick auf die Auslastung dem Haus gut tut". Das Volkstheater, dessen neue Intendanz demnächst bekannt gegeben wird, sei für ihn "ein Künstlerinnenhaus, wo man junge und etablierte Theatermacher in Ruhe arbeiten lassen kann". Rasche habe sich für die Nachfolge von Kay Voges beworben und auch Gespräche geführt, die schlussendlich jedoch ergebnislos geblieben seien, wie er sagt. Das Haus sei "ein wunderbarer Ort, der fantastisch renoviert wurde, aber man sollte es vonseiten der Politik nicht überfordern. Im Moment stellt man dieselben Ansprüche wie an das Burgtheater, das aber viel mehr Geld bekommt."
Ob er unter der im Herbst startenden Intendanz von Stefan Bachmann wieder in Wien Regie führen werde, wisse er noch nicht. Für die Leitung eines Theaters interessiere er sich nach wie vor. "Mir tut es weh, wenn das Theater nicht funktioniert." Er hege große Bewunderung für die Leistung, die der deutschsprachige Raum in den vergangenen Jahrzehnten für Stadttheater erbracht habe. "Und ich habe den Ehrgeiz, sie zu bewahren und voranzubringen." Er sei mittlerweile als Regisseur an einem Punkt, "wo ich viel gearbeitet und eine Form klar ausgebildet habe. Diese Verantwortung jetzt auch auf eine Institution zu übertragen, andere Kolleginnen und Kollegen einzuladen, für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen, Kontinuität in der künstlerischen Arbeitswelt zu schaffen, das würde mir Spaß machen!"
(Das Gespräch führte Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E - "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang von Goethe im Akademietheater. Premiere am 23. Februar, 19 Uhr. Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Kostüme: Sara Schwartz. Musik: Nico Van Wersch. Mit u.a. Julia Windischbauer, Daniel Jesch, Ole Lagerpusch, Maximilian Pulst und Enno Trebs. Weitere Termine: 25. und 29. Februar sowie am 10. und 23. März. www.burgtheater.at)
Zusammenfassung
- Regisseur Ulrich Rasche bringt Goethes 'Iphigenie auf Tauris' ab Freitag im Akademietheater Wien zur Aufführung, ein Stück, das er in der heutigen Zeit für besonders relevant hält.
- Rasche erweitert in seiner Inszenierung die männlichen Rollen durch einen vierköpfigen Chor, um die Dominanz der männlichen Gesellschaft zu verdeutlichen und Iphigenies Charakterstärke zu betonen.
- Die Hauptrolle der Iphigenie wird von Julia Windischbauer gespielt, die ihre Gedanken mit Klarheit und Schärfe ausdrückt, was Rasche für einen wichtigen feministischen Aspekt des Stücks hält.
- Der Regisseur sieht das Theater als Ort, der das Bewusstsein schärfen und zu gesellschaftlichen Diskussionen beitragen kann, insbesondere in Zeiten politischer und sozialer Spannungen.
- Nach der Pandemie und angesichts des Krieges in der Ukraine sieht Rasche die Notwendigkeit, dass Theater sich an politischen und sozialen Diskussionen beteiligen und nicht nur auf ökonomische Anforderungen reagieren soll.