Neuer Roman: Mühsame Sesselliftfahrt mit John Irving
Viel dreht sich in "The Last Chairlift" (Originaltitel) ums Skifahren. Ray, die Mutter des Hauptprotagonisten Adam, ist begeistert von diesem Sport und verbringt als Skilehrerin die Wintermonate auf den Pisten. Über Toni Sailer und Franz Klammer liest man, über die beiden rot-weiß-roten Olympiasiegerinnen von 1950 in Aspen, Dagmar Rom und Trude Jochum-Beiser, über "den Stemmbogen, den Schwung, der am Arlberg erfunden wurde und der später den Telemarkschwung ablöste" und u.a. über den Linzer Skipionier Sepp Ruschp, einen der Mitbegründer der US-Skiindustrie. Erklärungen über Skibindungen füllen Absätze. Zur Story trägt das wenig bis nichts bei.
Adam, der keineswegs die Ski-Leidenschaft teilt, kennt lange seinen Vater nicht, erfährt erst spät, dass seine Mutter zur Zeugung einen 14-Jährigen, einen späteren Filmstar, verführt hat. Es ist nicht ihr einziger Missbrauch: Sie zeigt ihrem minderjährigen Sohn, wie man küsst. Ray lebt mit einer Pistenraupenfahrerin und mit einem ungewöhnlichen kleinen Ehemann, einem Schneeläufer und Crossdresser, der im Laufe der Geschichte sein Geschlecht umwandelt, in einem funktionierenden Dreiecksverhältnis. Zentrale Rollen nehmen außerdem Adams Cousine Nora und ihre Freundin Em ein, die als Stand-up-Comedy-Duo mit dem Programm "Zwei Lesben, eine spricht" auftreten.
Vieles wird Irving-Fans bekannt vorkommen: Jemand verweigert das Sprechen, ein Vater fehlt und wird gesucht, Menschen sterben unter seltsamsten Umständen, man praktiziert Ringen und Sexgymnastik, ein mystisches Hotel gibt einen wichtigen Schauplatz ab - und auch Geister fehlen nicht. Manche Figuren werden Kennern ebenfalls vertraut sein. Wiederholungen sind in Irvings Oeuvre ja nichts Ungewöhnliches, aber in keinem seiner Werke so penetrant und gezwungen wie hier.
"Der letzte Sessellift" ist gleichzeitig Familiensaga, Bildungsroman, Coming-of-Age, Kritik an konservativen Kreisen und Appell für Akzeptanz und Toleranz. Ronald Reagan wird für seine Aids-Politik und Donald Trump als "Mösengrapscher" gegeißelt, ein Kirchenoberhaupt für sein Engagement gegen Schwangerschaftsabbruch. Auch sexuelle Belästigung und Amerikas Faible für Waffen thematisiert Irving. Der in Dialogen verpackten Kritik an Politik und Gesellschaft mangelt es jedoch an Tiefe. Topaktuelle Themen wie Roe v. Wade werden nur gestreift.
Skurrile Momente (etwa Selbstmord durch Erfrieren am Sessellift) treffen auf dramatische (etwa die eindringliche Schilderung eines an Aids sterbenden Homosexuellen). Es treten witzige Nebenfiguren wie ein österreichischer Zitherspieler auf, aber auch weniger gelungene Charaktere wie diverse eigenartige Sexpartnerinnen Adams. Manche Themen wie die Demenz des Großvaters (der dann nur noch "der Windelhosenträger" heißt) werden mitunter recht billig verblödelt, andere wie das Sterben in Vietnam und Hassverbrechen an der LGBT-Community mit dem nötigen und gebotenen Ernst behandelt. Vieles wiederholt sich über die rund 1.000 Seiten, wild durcheinander gewirbelt - man fragt sich, ob es ein Lektorat gab.
Irving zollt Hermann Melville Tribut, "Moby Dick" zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Kurt Vonnegut, Lex Barker und Graham Greene haben zwischen Penis-Diskussionen (ein Kapitel heißt gar "Dinge, die man mit einem Penis tun kann"), Orgasmen, Brüsten und Fäkalwitzen Platz gefunden. Irvings alte Magie blitzt durchaus auf, aber oft wird es bloß derb. Es darf auch ein bisschen autobiografisch sein: So versucht sich Adam als Autor und zieht nach Kanada (Aufschlüsse betreffend Irving selbst darf man sich nicht erwarten). Dieses ganze Sammelsurium mäandert mehr als es zündet, ganze und halbe Kapitel in Drehbuchform (von Adam verfasst, inklusive langweiligen Dialogen am Sessellift) helfen da auch nicht weiter.
Erstaunlich, wie dünn die Handlung bleibt, obwohl sich viel tut - vom Lawinenunglück bis zu einem Attentat. Selbst wenn Irving Figuren wie den "Schneeschuhläufer" (im Laufe des Romans dann "Schneeschuhläuferin) und die "Pistenraupenfahrerin" mit viel Liebe zeichnet, wachsen die Protagonisten und Protagonistinnen einem nur bedingt ans Herz. "Der letzte Sessellift" ist letztendlich eine Enttäuschung, ein eher mühsames als lohnenswertes Leseerlebnis. Superfans mögen widersprechen.
(S E R V I C E - John Irving: "Der letzte Sessellift", Übersetzung von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg, Diogenes Verlag, 1.088 Seiten, 38,50 Euro)
Zusammenfassung
- John Irving schenkte der Welt so wunderbare Bücher wie "Garp und wie er die Welt sah" und "Hotel New Hampshire".
- Mit 80 veröffentlichte er seinen, wie der Autor betonte, letzten langen Roman, der nun als "Der letzte Sessellift" in deutscher Übersetzung erscheint.
- Auch sexuelle Belästigung und Amerikas Faible für Waffen thematisiert Irving.
- "Der letzte Sessellift" ist letztendlich eine Enttäuschung, ein eher mühsames als lohnenswertes Leseerlebnis.