Juli Zehs "Zwischen Welten": Problemkatalog als E-Mail-Roman
Diese 480 Seiten sind für den Leser durchaus eine Langstrecke, die sich ganz schön zieht. Der Kurs ist rasch abgesteckt: 20 Jahre nach dem gemeinsamen Studium, in dem sie als WG-Kumpels in einer geschwisterlichen Beziehung praktisch unzertrennlich waren, laufen Stefan (46) und Theresa (43) in Hamburg einander zufällig über den Weg. Er ist mittlerweile Topjournalist, Kulturchef und stellvertretender Chefredakteur bei einer renommierten Wochenzeitung, sie hat als Landwirtin den väterlichen Hof in der brandenburgischen Provinz übernommen, einen Mann und zwei Kinder und rackert sich ab. Ihre Erfahrungs- und Lebenswelten scheinen nicht mehr kompatibel. Die Wiederbegegnung endet im Schreiduell an der Außenalster. Doch etwas triggert sie. Sie spüren Reste der früheren Vertrautheit - und sie beginnen eine Fernbeziehung.
Der hippe Kulturjournalist, der sich durch sein Interesse für Klimathemen glaubt, aus seiner Blase befreit zu haben und seinen originären Weg zwischen Engagement und Aktivismus noch nicht gefunden hat, und die Biobäuerin, für die eine verfehlte Agrarpolitik und der Klimawandel eine existenzbedrohende Mischung darstellen, tauschen sich über nahezu alles aus, was in der Gesellschaft, im Feuilleton und in den Sozialen Netzwerken so anliegt. Woher sie die Zeit für ausführlichste Beschreibungen und Argumentationen nehmen, die mit kurzen, aber heftigen Beschimpfungen abwechseln, ist rätselhaft, denn beide haben ein enormes Arbeitspensum zu erledigen - wobei es dem Blattmacher um seine Karriere, für die Landwirtin ums nackte Überleben geht. Gut möglich, dass sich so die Doppel-Autorenschaft erklärt, und Juli Zeh, die ihr Engagement für viele Themen auch in ihren Büchern unter Beweis gestellt hat, und der ein Jahr jüngere Werbetexter, Journalist und Autor Simon Urban sich simpel die Rollen geteilt haben.
Es geht um Politik und Journalismus, AfD und #MeToo, den Ukraine-Krieg und Klimawandel, Hass im Netz und Daten(un)sicherheit, Wokeness und gesellschaftliche Radikalisierung - ein ganzer Problemkatalog wird durchbuchstabiert, ohne, dass die beiden Protagonisten einander wirklich näher kämen. Die immer darüber schwebende mögliche Love Story realisiert sich nicht: Eine Wiederbegegnung im echten Leben wird zum Desaster und später für Stefan zu einem echten Problem. Dazu kommt: Das Umfeld und die Probleme Theresas kommen einem Leser von Juli Zehs Romanen sehr bekannt vor. Die Diskrepanz zwischen der scheinbaren Idylle in Brandenburg und den wahren Problemen der nicht nur als Zweitwohnsitzbesitzer ansässigen Bevölkerung zieht sich durch ihre erfolgreichen Romane, und tatsächlich liege "Unterleuten" (so der Titel ihres 2016 erschienenen und auch erfolgreich verfilmten Bestsellers) in unmittelbarer Nachbarschaft von Schütte, wo Theresa den von einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) in einen Bio-Milchhof umgewandelten Betrieb durchzubringen versucht, heißt es einmal.
"Zwischen Welten" ist nicht "Unterleuten" und auch nicht "Über Menschen" (2021), und alle erzählerischen Qualitäten, die Juli Zeh dort bewiesen hat, müssen diesmal in langwierige und in der Ausführlichkeit ziemlich unglaubwürdige Nacherzählungen im Mailverkehr untergebracht werden. Das Erstaunliche ist: Die Geschichte entwickelt sich dank dramatischer Ereignisse in beider Leben doch vom Thesenroman zum Pageturner, und man die 480 Seiten dann doch in zwei Nächten ausgelesen. Am Ende haben weder die Leser noch die Protagonisten wirklich etwas gelernt - aber die Erkenntnis: Es gibt wahrlich massenhaft Probleme. Es gibt auch Lösungen. Nur gibt es niemanden, der sie umsetzt.
(S E R V I C E - Juli Zeh, Simon Urban: "Zwischen Welten", Luchterhand Verlag, 448 Seiten, 24,70 Euro)
Zusammenfassung
- 17 Jahre nach Daniel Glattauers "Gut gegen Nordwind" hat nun Juli Zeh gemeinsam mit Simon Urban einen zeitgemäßen digitalen Briefwechsel vorgelegt.
- "Zwischen Welten" besteht aus dem regen Austausch von Mails, WhatsApp- und Telegram-Nachrichten zweier ehemaliger Studienkollegen, in denen es um die großen Weltprobleme geht.
- (S E R V I C E - Juli Zeh, Simon Urban: "Zwischen Welten", Luchterhand Verlag, 448 Seiten, 24,70 Euro)