APA/APA/Wiener Festwochen/Jean Louis Fernandez

Festwochen verweben in "Lacrima" Tränen mit Hochzeitskleid

Gewalt und Geheimnis sind der Kern der um einen königlichen Haute-Couture-Auftrag zentrierten Geschichte von Caroline Guiela Nguyens "Lacrima": Tränen fließen wie ein roter Faden durch ihr multiperspektivisches Stück. Die Darstellung sozialer, geopolitischer und privater Spannungsfelder raubte dem Publikum am Donnerstagabend in einer fast dreistündigen und dennoch kurzweiligen Vorstellung im Museumsquartier den Atem. Standing Ovations folgten auf ergriffenes Schweigen.

Ein Theaterstück, das mit dem unerklärten Suizidversuch einer noch unbekannten Hauptfigur startet, in diesem Kontext mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet, und die Zusehenden brutal in die Intensität des Abends stößt, lässt schnell vergessen, dass sich die Handlung um etwas scheinbar Unbedeutendes wie ein Kleid dreht. Auf berührende Weise in den Fokus gerückt werden die hinter dem Modestück verborgenen Arbeiter und Arbeiterinnen. Nguyen gibt diesen zumeist vergessenen Perspektiven im Rahmen ihres Wien-Debüts Stimme und Raum. Inspiriert von Lady Dis Hochzeitskleid und der Künstlerin Rieko Koga, die händisch Sätze auf Stoffe näht, hat die französische Regisseurin alle am Herstellungsprozess beteiligten Figuren, ihre Geschichten, ihre Gefühle mit dem Kleid verwoben.

Première d'Atelier Marion Nicolas weint vor Freude, als feststeht, dass das Pariser Haute-Couture-Haus, in dem sie arbeitet, mit Design und Herstellung eines Hochzeitskleides für die britische Prinzessin beauftragt wird. Wie sich Tränen (Latein: lacrimas) im Laufe des Produktionsprozesses in ihrer Natur wandeln, wer sie vergießt und aus welchen Anlässen, regt zum Denken an. So auch die wiederkehrende Thematik des lebenserhaltenden Atmens. Eine enorme Spannung prägt das Stück, musikalisch zusätzlich dramatisiert durch repetitive Streichermelodien und Rhythmen, Paukenschläge, Spiel mit der Lautstärke. Gelegentliche humoristische Details und Zwischenmenschlichkeiten sind bewusst gesetzt: Pausen zum Aufatmen.

Schnittzeichner in Paris, Spitzenklöpplerinnen in der Normandie und Handsticker Abdul Gani in Mumbai investieren unter strengen Geheimhaltungsvorschriften Leidenschaft und Ressourcen in das Kleid der britischen Prinzessin, die sich eine vollständig bestickte Schleppe wünscht, obwohl das mit beträchtlichem Risiko einhergeht. Auch ein Alençon-Schleier, in den einst zehn Jahre Arbeit flossen, soll restauriert werden. Und das innerhalb von knapp bemessenen acht Monaten. Diese Last, die die Arbeitenden beschwert wie die 250.000 echten Perlen den Stoff der Schleppe, führt schließlich zu einer doppelten Deformation - Mensch und Motiv der Stickerei drohen durch die auf sie ausgeübte Spannung in Einzelteile zu zerfallen.

Die in fünf Episoden gegliederte Eskalation lässt sich über alle drei Produktionsorte beobachten. Dafür bedarf es nur minimaler Änderungen des weitläufigen, detailreichen Bühnenbilds von Alice Duchange. Zur Authentizität des Multiperspektivismus trägt auch die in Nguyens Werken übliche Mehrsprachigkeit bei: Französisch, Englisch, Tamil. Die Orientierung an den deutschen und englischen Übertiteln mag zu Beginn überfordernd sein und den Einstieg in die Handlung erschweren, besonders da es auf der Bühne meist mehrere Schauplätze gleichzeitig zu sehen gibt. Nicht zuletzt werden dadurch jedoch Stress und Druck der Arbeitenden für das Publikum nachvollziehbarer.

Der wohl wesentlichste Schauplatz - ein für den Vermittlungsstil essenzielles Element - ist der über den Darstellern schwebende Bildschirm. Mittels Medieneinsatz werden jene in den Vordergrund geholt, die im Hintergrund agieren, Verantwortung tragen, dabei aber nicht einmal vollständig in den Auftrag - das Geheimnis - eingeweiht sind. Das Königshaus bleibt hingegen unsichtbar. Auf der Bühne platzierte Kameras filmen das aus Profischauspielenden und Amateuren bestehende Ensemble, deren schauspielerische Leistung somit Bühnen- wie Filmstil abdecken muss. Übertragungen dieser Blickwinkel, inszenierte Zoom-Calls, Close-ups der Handarbeiten, Einblendungen der Stoffe und Modelle kommen zum Einsatz, geben lehrreiche Einblicke in das Handwerk.

Auch Arbeits- und Tageszeiten sind auf diese Weise hervorgehoben. Parallel abgebildet werden Schauplätze, die trotz räumlicher Getrenntheit durch die Gleichzeitigkeit der Entstehungsprozesse und das Geheimnis miteinander verwachsen sind. Im Gegensatz zu dieser Verbundenheit steht jedoch der geopolitisch gezeichnete Umgang mit Arbeitsverhältnissen. Während sich der muslimische Sticker Gani spätnachts noch über sein Werk beugt, leert sich abends in Paris das Haute-Couture-Haus, macht Raum für eine packende Szene häuslicher Gewalt. Privates und Familiengeheimnisse werden mit dem Stoff verwoben - Ehekrisen und Krankheit genauso wie die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Indien. Gani verweilt selbst während der dreiminütigen Pause für das Publikum arbeitend auf der Bühne und spiegelt dadurch reale Arbeitsbedingungen wider. Mit "Lacrima" startet Nguyen eine Suchbewegung nach ethisch gerechten Verhältnissen, die die Arbeitsbedingungen verbessern - und zwar nicht auf postkoloniale Art.

Denn die durch Londoner Verträge verpflichtenden Gesundenuntersuchungen dienen letztlich nur der Gewissensberuhigung des Auftraggebers und dem Schutz des Kleides. Die Arbeiter sind nicht und waren nie von Bedeutung. Hervorgehoben wird dies besonders im abschließenden Gänsehautmoment - eine variierte Wiederholung des anfänglichen Suizidversuchs. Die Reanimation erfolgt im Schatten des Kleides, dessen Beleuchtung zuletzt erlischt, während am Bildschirm knapp die weitere Entwicklung der Hauptfiguren zusammengefasst wird. Ein Finale, das die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen lässt und eher an ein dokumentarisches Format als an ein Theaterstück erinnert. Nguyen plant tatsächlich, wie sie im Programmheft angibt, das Stück "Lacrima" durch die Gestaltung einer Filmserie als Fortsetzung oder Parallelerzählung zu ergänzen. Ein Wiedersehen mit jenen Hauptfiguren, die dem Publikum gestern Abend Tränen in die Augen trieben, ist also nicht ausgeschlossen.

(Von Selina Teichmann/APA)

(S E R V I C E - "Lacrima" von Caroline Guiela Nguyen im Rahmen der Wiener Festwochen im Museumsquartier. Englisch, Französisch, Tamil, mit deutschen und englischen Übertiteln. Eine Produktion des Théâtre National de Strasbourg in Koproduktion mit u.a. Wiener Festwochen. Mit Dan Artus, Dinah Bellity, Natasha Cashman, Charles Vinoth Irudhayaraj, Anaele Jan Kerguistel, Maud Le Grevellec, Liliane Lipau / Michèle Goddet, Nanii, Raji Parisot, Vasanth Selvam. Dramaturgie: Louison Ryser, Tristan Schinz, Bühne: Alice Duchange, Werkstätten des Théâtre National de Strasbourg, Kostüm: Benjamin Moreau, Werkstätten des Théâtre National de Strasbourg. Weitere Aufführung am 31. Mai um 19.30 Uhr. Infos und Tickets unter https://www.festwochen.at/lacrima)

ribbon Zusammenfassung
  • Das Theaterstück 'Lacrima' von Caroline Guiela Nguyen behandelt die Herstellung eines königlichen Hochzeitskleides und erhielt im Museumsquartier Wien Standing Ovations.
  • Die fast dreistündige Aufführung beginnt mit einem unerklärten Suizidversuch und beleuchtet die Perspektiven der oft vergessenen Arbeiter und Arbeiterinnen.
  • Nguyen inspiriert sich an Lady Dis Hochzeitskleid und der Künstlerin Rieko Koga, die Sätze auf Stoffe näht, um die Herausforderungen und Spannungen bei der Herstellung des Kleides darzustellen.
  • Die Produktion nutzt Medieneinsatz, um die Arbeiter in den Vordergrund zu rücken, und ist mehrsprachig (Französisch, Englisch, Tamil) mit deutschen und englischen Übertiteln.
  • Das Stück wird im Rahmen der Wiener Festwochen aufgeführt und ist eine Koproduktion des Théâtre National de Strasbourg.