Festwochen: Jubel für Serebrennikovs Freiheitsruf "Barocco"
Und theatral hat der Abend, den Neo-Festwochenintendant Milo Rau vom Hamburger Thalia Theater nach Wien holte, fraglos immer wieder starke Szenen zu bieten. Berührend, wenn der aus seiner Heimat emigrierte Serebrennikov Sam Mendes' legendäre Szene des im Wind tanzenden Sackerls aus "American Beauty" zu einem Duett zwischen Tänzerin und Tüte macht oder der musikalische Spielleiter Daniil Orlov mit der rechten Hand in Handschelle nur mit der Linken Bachs "Chaconne" am Flügel spielt. Gerade mit letzterer Sequenz webt der Regisseur aktuelle politische Bezüge ein, rekurriert er hier doch auf die auf Video festgehaltene Nawalny-Mitstreiterin Anastasia Vasilyeva, die weiterhin Klavier spielt, während die Polizei ihre Wohnung durchsucht.
Es sind diese kleinen oder auch die größeren Widerstandsakte, die Serebrennikov interessieren, was es umso erstaunlicher macht, dass die Urfassung von "Barocco" im Russland des Jahres 2018 noch gespielt wurde, auch wenn Serebrennikov die Uraufführung bereits aus dem Hausarrest begleiten musste. Das Feuer zieht sich dabei als rotzüngelnder, etwas penetranter Faden durch den Abend. Die Selbstverbrennung Jan Palachs aus Protest gegen die sowjetische Niederschlagung des Prager Frühlings 1969 ist hier das Menetekel, dessen Symbolik über filmische Zitate wie Andrei Tarkowskis "Nostalghia" fortgeführt wird. Und so muss auch die berührende Pianosequenz mit dem im Dunkel der Bühne spielenden Orlov am Ende mit einem Leinwandfeuer beendet werden, das jeder zweitklassigen Rockband gut zu Gesicht stünde.
All das steht mosaikartig wie ein barockes Pasticcio nebeneinander. Mal darf Tilo Werner ausgehend von Stefano Landis Renaissancearie "Passacaglia della vita" ein minutenlanges Slapsticksolo über die Frage des Sterbens hinlegen, dann wieder der junge Brasilianer Jovey, den Serebrennikov als Straßenmusiker entdeckte, eine Nummer mit Gitarre singen. Wie beim Eurovision Song Contest dominiert "Barocco" ein atemlos schneller Wechsel der Tonalitäten ohne dramaturgischen Zusammenhang - nur dass beim ESC die Zahl der musikalisch peinlichen Nummern geringer ist.
Schließlich hat Daniil Orlov als musikalischer Leiter des Abends das Best-of an Barockarien zwischen Lully, Händel oder Telemann über weite Strecken mit Synthesizer, Percussion und E-Gitarre verunstaltet, sodass das Ergebnis eher an eine CD vom Wühltisch erinnert, die von einem Hochzeitsalleinunterhalter am Keyboard eingespielt wurde, als an die echten Kompositionen. In besseren Momenten klingt das Ganze so, als hätte Vangelis sich die Werke der Kollegen vorgenommen.
Dabei hätte die dem Barock eingewobene Ahnung des Todes und die just daraus entstehende überbordende Feier des Lebens, des Exzesses gerade ohne diesen Elektrotand das Potenzial, für die gesellschaftspolitische Anklage von "Barocco" seine wirkliche Kraft zu entfalten - zumal dem Regisseur mit der lyrischen Sopranistin Nadezhda Pavlova eine hervorragende Stimme zur Verfügung steht. Aber wie gesagt: Der Saal tobte.
(Von Martin Fichter-Wöß/APA)
(S E R V I C E - "Barocco" von Kirill Serebrennikov im Rahmen der Wiener Festwochen, Universitätsring 2, 1010 Wien. Regie/Bühne/Kostüme: Kirill Serebrennikov. Musikalische Leitung: Daniil Orlov, Choreografie: Ivan Estegneev und Evgeny Kulagin, Video: Ilya Shagalov, Licht: Sergej Kuchar. Mit Odin Biron, Felix Knopp, Tilo Werner, Svetlana Mamresheva, Yang Ge, Victoria Trauttmansdorff, Jovey, Daniil Orlov und Nadezhda Pavlova. Weitere Aufführungen am 20. und 21. Mai. www.festwochen.at/barocco)
Zusammenfassung
- 'Barocco', inszeniert von Kirill Serebrennikov, kombiniert Freiheitsplädoyer mit verstümmelter Barockmusik und wurde begeistert vom Publikum der Wiener Festwochen aufgenommen.
- Trotz musikalischer Kritik, wie der Verfremdung klassischer Barockarien durch Synthesizer und E-Gitarre, lobt das Publikum die kraftvolle Botschaft und die theatralische Darbietung.
- Die Aufführung enthält starke politische und historische Bezüge, darunter eine Anspielung auf die Nawalny-Mitstreiterin Anastasia Vasilyeva und die Selbstverbrennung Jan Palachs als Symbol des Widerstands.