Festwochen: Die Geschichte Russlands und von Marina Davydova
Im Odeon hat die zuletzt aus Putin-Russland Geflüchtete ein virtuelles Museum aufgesetzt, in dem in fünf Episoden Russland in seiner Vielschichtigkeit entblättert wird. Alles beginnt mit Tschaikowskys verfremdeter "1812"-Ouvertüre und im mythenumrankten Russischen Zarenreich. Vom 13. Jahrhundert an wird zunächst im konventionellen TV-Dokuformat die Geschichte Russlands nachgezeichnet.
Das Publikum steht dabei auf der Bühne in einer fiktiven, immersiven Ausstellung, in der Devotionalien, Artefakte, Trachten im konventionellen Nationalmuseumsstil präsentiert werden. Der anfangs scheinbar neutrale Erzähler aus dem Off steigert sich dabei zusehends in nationalistischen Geifer.
Schnitt. Der Weg vom Großen zum Kleinen wird fortgesetzt, wenn in der nächsten Episode Stimmen aus Armenien, Georgien, Aserbaidschan oder der Ukraine eine Kakophonie der einzelnen Nationalitäten der einstigen Sowjetunion bilden. Wer war das erste, wer das größte Opfer? Die unterschiedlichen Kulturen, das gewaltsame Entstehen der Sowjetunion und deren nicht minder blutiger Zerfall werden hier im Widerstreit der Nationalmythologien paraphrasiert.
Und doch stellt dieser verbale Grenzstreit den langatmigen Durchhänger des Abends dar, bremst den aufgebauten Schwung bis zum Stillstand ab. Auch die folgenden Teile, die zunächst Politiker wie Trotzki, Subhi oder Dzierżyński und schließlich die zahllosen Opfer in den Mittelpunkt rücken, erscheinen allzu naheliegend, antitheatral. Doch mit welcher Wucht lässt Davydova den Abend enden!
Zum Schluss wird der Mantel der Ideologie beiseite geschoben, wird wie bei einer Matrjoschka die kleinstmögliche Einheit erreicht: Der einzelne Mensch. Davydova erlaubt in Person der berührend agierenden Schauspielerin Marina Weis einen intimen Einblick in ihr Sein. Als Tochter eines Armeniers in Aserbaidschan geboren, in der dortigen Hauptstadt Baku in der russischsprachigen Elite aufwachsend, floh sie 1990 infolge eines Pogroms nach Moskau. Als offene Gegnerin des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine musste Davydova wiederum nach Deutschland flüchten.
Als Liebhaberin der russischen Kultur und Gegnerin des russischen Neo-Faschismus fühlt sich die Künstlerin mittlerweile zwischen allen Stühlen sitzend. Als Gegnerin der Sowjetunion wurde sie selbst zum Opfer deren Zerfalls. Heute empfindet sich Marina Davydova als eine jener Stimmen, die im Strudel der Geschichte unterzugehen drohen. Und die sich mit ihrem beeindruckenden Text doch Gehör verschafft.
(S E R V I C E - "Museum of Uncounted Voices" von Marina Davydova im Rahmen der Wiener Festwochen im . Konzept/Text/Regie: Marina Davydova, Bühne: Zinovy Margolin. Mit Marina Weis. Weitere Aufführungen am 23., 24. und 26. Mai. www.festwochen.at/the-museum-of-uncounted-voices)
Zusammenfassung
- Und am Ende das radikal-persönliche Entblößen eines Lebens zwischen den Stühlen.
- Als Gegnerin der Sowjetunion wurde sie selbst zum Opfer deren Zerfalls.