"Engel in Amerika": Im Akademietheater blickt man zurück
Bühnenbildnerin Annette Murschetz hat schwarze, längliche Kisten zwischen zwei hohe Seitenwände gestellt, an denen die weißen Kacheln sich zu lösen beginnen. Sie sind nach Bedarf Synagogenbänke, Särge, Betten, aber auch Schminktisch und Cocktailbar können sie beherbergen. Eine durchdachte und praktikable Lösung, die von der Künstlichkeit eines großen, aufblasbaren, rosa Plastikobjekts bewusst konterkariert wird. Die Fantasie ist hier immer im Spiel, auch wenn es um so irdische Dinge wie Liebe und Lust, Konvention und Krankheit, Macht und Tod geht.
Den Vogel schießen die Kostüme ab: Der georgische Modedesigner und Kostümbildner Shalva Nikvashvili hat sich ausgetobt, zumal zwei der Figuren frühere Dragqueens sind. Also werden u.a. die klassischen Motive "sterbender Schwan" und "Eisbärfell" ganz neu interpretiert. Regisseur Kramer dagegen setzt auf eine Mischung aus Realismus und Stilisierung und zeigt bereits in der ersten Szene mit einem kabarettistischen Einlage des skrupellosen Staranwalts Roy M. Cohn, der drei Mobiltelefone aus der Zeit, als diese noch Bananengröße hatten, gleichzeitig bedient, dass es hier um einen Blick zurück in die Mitte der 1980er geht. Das rückt das Geschehen jedoch ziemlich weit weg.
Die vorgeführten dunklen Machenschaften der Mächtigen jucken heute niemanden mehr besonders, Homosexualität ist als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft weitestgehend akzeptiert, AIDS längst nicht mehr das Schreckgespenst von einst, das eine verheerende Spur des Todes hinter sich zieht. Und so wird die Eingangsszene nach der Pause des mit dreieinhalb Stunden doch recht langen Abends zum Höhepunkt: Der Jude Louis, dessen Freund im Sterben liegt, textet die Ex-Dragqueen und nunmehrigen Krankenpfleger Belize mit seinen Ansichten zum angeblich problemlosen Zusammenleben in den USA zu, bis dem Schwarzen die Spucke wegbleibt. So viel rassistischen Schwachsinn hat er noch nie gehört. Das ist nicht nur von Nils Strunk und Bless Amada glänzend gespielt, sondern zeigt: Race ist jenes Thema des Stückes, das an gesellschaftlicher Relevanz noch zugelegt hat.
Im übrigen beweist das Burgtheater-Ensemble seine hohe Qualität. Markus Scheumann ist der Anwalt Roy M. Cohn (seinerzeit im Schauspielhaus spielte ihn Erich Schleyer), der Homosexualität über schlechtes gesellschaftliches Standing und nicht darüber definieren möchte, mit wem man schläft. Bald wird auch er jenes rote Dreieck am Körper tragen, das - in Anlehnung an den rosa Wimpel in den KZs - in dieser Inszenierung jene brandmarkt, die Läsionen am Körper tragen, wunde Stellen, die zeigen, dass das Immunsystem gravierend geschädigt ist. Felix Rech ist sein "Boy" Joe, der seiner Frau (Annamária Láng) seine Homosexualität gestehen muss und Skrupel hat, sich für die Machenschaften seines Gönners vor den Karren spannen zu lassen. Patrick Güldenberg ist eines der ersten Opfer der neuen Krankheit, Barbara Petritsch und Safira Robens haben gleich mehrere kleine Rollen zu bewältigen.
Das Ende ist verschenkt. Der pinke Ballon platzt, und der Knalleffekt überdeckt die dahinter stattfindende Schlussapotheose des titelgebenden Engels. Dennoch viel Applaus der Fans. Wer nach dem ersten Teil ("Die Jahrtausendwende naht") auch den zweiten Teil ("Perestroika") sehen will, muss nach München fahren. Am Residenztheater läuft seit diesem Herbst jene fünfeinhalbstündige Inszenierung von Simon Stone (mit Roland Koch als Roy Cohn), mit der Resi-Intendant Andreas Beck 2015 seine Intendanz in Basel eröffnete. Beck war jedenfalls gestern in Wien - an seinem früheren Arbeitsplatz, von dem manche denken, dass es auch sein kommender sein sollte.
(S E R V I C E - "Engel in Amerika. Die Jahrtausendwende naht" von Tony Kushner im Akademietheater. Aus dem Englischen von Frank Heibert, Regie: Daniel Kramer, Bühne: Annette Murschetz, Kostüme: Shalva Nikvashvili, Musik: Tei Blow, Mit: Markus Scheumann, Felix Rech, Nils Strunk, Annamária Láng, Bless Amada, Patrick Güldenberg, Barbara Petritsch, Safira Robens. Nächste Vorstellungen am 14., 19. und 29. November sowie am 1. Dezember. www.burgtheater.at)
Zusammenfassung
- "Angels in America", das war 1994, als die Österreichische Erstaufführung des Stücks von Tony Kushner am Wiener Schauspielhaus stattfand, das Stück der Stunde.
- Eine Generation später ist das Stück nun in einer Inszenierung von US-Regisseur Daniel Kramer am Akademietheater zu sehen.
- Wer nach dem ersten Teil auch den zweiten Teil sehen will, muss nach München fahren.
- Nächste Vorstellungen am 14., 19. und 29. November sowie am 1. Dezember.