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Comickünstlerin Ulli Lust beschreibt "Die Frau als Mensch"

Es gibt sie in unterschiedlichsten Größen und Formen: Historische Frauenstatuetten, die in vielen Weltregionen gefunden wurden. Sie gaben für die österreichische Comickünstlerin Ulli Lust den Anstoß, sich intensiver mit der Menschheitsgeschichte auseinanderzusetzen und dabei nicht zuletzt "Die Frau als Mensch" zu beleuchten. Ihr so betitelter Sachcomic zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die deutlich harmonischer organisiert war als vielleicht vermutet.

Lust, die für Comics wie "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" vielfach ausgezeichnet wurde, hat sich schon immer für Geschichte interessiert. "Ich bin ein Wissenschaftsnerd und lese gerne Wissenschaftszeitungen", erzählte sie im APA-Gespräch. Besonders frühzeitliche Figuren wie die Venus von Willendorf hätten es ihr angetan. "Die Tatsache, dass die Kunst der Frühgeschichte so wenig aggressiv ist im Vergleich zur späteren, hat mir zu denken gegeben." Als sie vor einigen Jahren dann auf der Suche nach einem neuen Stoff war, stellte sie sich die Frage: "Was waren das für Menschen, die diese Kunstwerke gemacht haben?"

Nun erscheint mit "Am Anfang der Geschichte" der erste Band ihrer mehrteiligen Reihe, für die sie über Jahre hinweg intensiv recherchiert hat. Der Kunstschatz bis etwa 6.000 vor Christus stelle sich "relativ fröhlich" dar. "Da wird getanzt, gesungen, es gibt viele Frauenstatuetten - und plötzlich verschwinden sie." Gerade in der jüngeren Vergangenheit habe sich der wissenschaftliche Blick auf die eiszeitliche Gesellschaft stark gewandelt, hätten nicht zuletzt viele Wissenschafterinnen ihren Blickwinkel eingebracht. Vorher wurden Frauen jener Zeit eher als schwach und unterworfen beurteilt. "Wir haben die Steinzeit so betrachtet, wie wir uns selbst sehen", gab Lust zu bedenken. "Man hat die Tendenz, das Eigene auf die anderen zu übertragen."

Paradigmenwechsel in der Betrachtung

Ihre umfangreiche Lektüre habe ihr aber den Eindruck vermittelt, "dass die Gesellschaft der Frühgeschichte ein bisschen anders strukturiert gewesen sein muss". Den Paradigmenwechsel in der Betrachtung wollte sie in einem Sachcomic zusammenfassen - "auch weil ich den Werkzeugkasten habe, um viele Dinge zu visualisieren, bei denen sich Sachbuchautoren schwerer tun, ein Verständnis dafür bei den Lesern zu wecken, weil sie es beschreiben müssen". Die knapp 250 Seiten des ersten Bandes umfassen nicht nur mehrere Tausend Jahre, sondern versammeln auch unzählige Zeichnungen von Statuetten, geografische Übersichten oder archäologische Funde, die uns eine längst vergangene Zeit näher bringen.

"Die Lebensweise von nomadischen Jägern und Sammlern ist komplett anders als alles, was wir gewöhnt sind. Deswegen ist es für uns so schwierig, die Frühgeschichtskunst zu beurteilen, weil wir eine ganz andere Gesellschaftsform haben", betonte Lust. "Bei der Interpretation der Artefakte kann man auch lesen, wo die Archäologen gerade herkommen." Mit einzelnen Panels geht sie daher auch auf diesen Kontext ein bzw. bringt sich selbst als handelnde Figur ins Spiel, um ihre Motivation und ihren Standpunkt nachvollziehbar zu machen. "Es war auch für mich eine Forschungsreise, obwohl ich vorher dachte, dass ich schon einen großen Überblick habe."

Eine zentrale Erkenntnis kommt, wie der Titel schon sagt, der Rolle der Frau zu jener Zeit zu. Dass etwa die vielen Frauenstatuetten nur auf eine Verehrung der Mutter abzielen, sei ein überholtes Klischee, so Lust. "Ich bin der Meinung, dass es um das Frausein ging. Das sind Figuren, die das Zeichen Frau repräsentieren. Mutter ist ein Teil davon - aber eben nur ein Teil." Nur wenige Darstellungen würden Schwangere zeigen, Kinder seien hingegen völlig absent. "Es sind immer Frauen, die alleine stehen, relativ souverän wirken, selbstbewusst und in sich ruhend. Die alleinstehende, souveräne Frau scheint in der Eiszeit kein Problem gewesen zu sein."

Der sprachlichen Norm entgegenwirken

Geschichte wurde aber über Jahrhunderte hinweg von Männern geschrieben, wie Lust früh in ihrem Comic festhält. Auch "sprachlich ist der Mann die Norm", schreibt sie. Ist "Die Frau als Mensch" also der Versuch einer gendergerechten Geschichtsschreibung? "Erst mal geht es mir bei den Eiszeitmenschen darum, eine Gesellschaft zu beschreiben, in der die Norm ein egalitäres Verhältnis ist", sagte Lust. "Es gibt keine Zeichen für irgendeine Geschlechterhierarchie. Wenn, dann wäre es die Frau, die führend ist, aber das glaube ich eher nicht. Alleine das als Normalfall ist für uns schon eine Sensation."

Vor diesem Hintergrund ist auch die Auffassung vom Recht des Stärkeren neu zu bewerten. "Wir haben als eine der wenigen Spezies Spaß und Freude an großzügigen Akten, am Teilen", unterstrich Lust. "Wir können fremden Menschen vertrauen oder können uns in großen Menschengruppen aufhalten und uns sehr wohlfühlen. Das können andere Tiere nicht. Wir sind hypersoziale Wesen." Dementsprechend sei nicht Aggression entscheidend für die Entwicklung und das Überleben der Menschheit gewesen, "sondern unsere Fähigkeit zur Fürsorge und zum nichtreziproken Altruismus. Das klingt jetzt übel", lachte die Künstlerin, "aber das meint einfach, dass man sich altruistisch verhält, ohne gleich eine Gegenleistung zu erwarten."

Fürsorge und Rücksicht

Ein Abgesang auf das kapitalistische Prinzip also und direkter Bezug zur Jetztzeit. Für andere zu sorgen und auf sie Rücksicht zu nehmen, seien Fähigkeiten, "auf die viel zu wenig geachtet wird", so Lust. "Ich finde, sie haben es verdient, stärker in unser Bewusstsein zu gelangen. Weil wir sie dann auch viel bewusster kultivieren können. Die Idee, dass Menschen, die fürsorglich oder rücksichtsvoll sind, naive Gutmenschen wären, ist eine der desaströsesten Weltvorstellungen, die man nur predigen kann. Das ist natürlich zum Scheitern verurteilt", bezog sie sich auf rechtspopulistische Tendenzen, die weltweit auf dem Vormarsch sind. "Wenn der Gutmensch lächerlich ist und der aggressive Affe das Ideal, das sich durchsetzt, wie wir es gerade propagiert bekommen, dann weiß man ja schon, wie das endet."

Noch im Februar wählt Deutschland einen neuen Bundestag, wobei der AfD große Gewinne prognostiziert werden. "Ich lebe seit 30 Jahren in Deutschland und konnte, als die AfD groß wurde, immer sagen: Ja ja, wir kennen das alles schon. Wir Österreicher waren in der Poleposition, wenn es um den Rechtsruck in Europa geht." Über die Zeit sei die Stimmung in den Medien ihrer Ansicht nach noch untergriffiger geworden, "die Haider'sche Rhetorik hat sich komplett durchgesetzt". Die derzeitige Situation sei "enorm bedenklich und furchtbar traurig, dass wir uns da überhaupt hineintheatert haben. Ein Kanzler wie Kickl, das wäre schon nicht so lustig", verwies Lust auf die Koalitionsverhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP.

Klimakatastrophe "macht keine Hoffnung"

Und trotzdem: Gänzlich in Pessimismus verfallen will die Zeichnerin nicht. Viele linke oder liberale Positionen, für die sie als Jugendliche habe kämpfen müssen, seien irgendwann Mainstream geworden. Gleichzeitig hätten sich Reaktionäre dazu als Rebellen verhalten. "Als 57-jährige Frau denke ich mir und weiß: Irgendwann geht es auch wieder vorbei. Es gibt immer beide Strömungen gleichzeitig." Große Sorge bereite ihr allerdings die Klimakatastrophe. "Das macht keine Hoffnung." Für viele sei das Klima immer noch etwas Stabiles. "Aber gerade die Eiszeit ist ein gutes Beispiel dafür, dass Klimawechsel ganz schnell eintreten können." Kaltphasen seien damals innerhalb eines Lebensalters gekommen. "Durch winzige Veränderungen, die sich dann multiplizieren, kommen diese extrem großen Wirkungen."

Auch um dafür Verständnis zu fördern, habe sie "Die Frau als Mensch" geschrieben und gezeichnet. Und grundsätzlich gelte: "Wenn man darüber nachdenkt, sind wir viel öfter gerne mit Menschen zusammen, als dass wir mit ihnen streiten. Wir können auf der Straße gehen, ohne bedroht zu werden. Wir leben schon in einer sehr zugewandten Gesellschaft. Man kann also durchaus denken: Moment mal, das ist eine tolle menschliche Fähigkeit. Und allein die Konzentration darauf wird eine positive Wirkung haben."

(Das Gespräch führte Christoph Griessner/APA)

(S E R V I C E - Ulli Lust: "Die Frau als Mensch. Band 1: Am Anfang der Geschichte", Reprodukt, 256 Seiten, 29,90 Euro; https://reprodukt.com/collections/ulli-lust; www.ullilust.de)

Zusammenfassung
  • Ulli Lust hat mit 'Die Frau als Mensch' einen 250-seitigen Sachcomic veröffentlicht, der die Rolle der Frau in der Frühgeschichte beleuchtet.
  • Historische Frauenstatuetten, wie die Venus von Willendorf, inspirierten Lust zu dieser intensiven Auseinandersetzung mit der Menschheitsgeschichte.
  • Lust stellt fest, dass die Gesellschaft der Frühgeschichte möglicherweise egalitärer war, als bisher angenommen, und dass Frauenstatuetten mehr als nur Mütterlichkeit repräsentieren.
  • Der Comic bietet visuelle Darstellungen von Statuetten und archäologischen Funden und soll einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung der Frühgeschichte anregen.
  • Lust kritisiert die männlich dominierte Geschichtsschreibung und betont die Bedeutung von Fürsorge und Altruismus für die menschliche Entwicklung.