Autorin Vučković fand "Muster manipulativer Beziehungen"
APA: Frau Vučković, wie stark basieren Geschichte und die Figuren von "Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen" auf realen Vorbildern? Sie bedanken sich ja bei ihrer "Freundin T.V." dafür, dass sie ihre Lebensgeschichte mit Ihnen geteilt hat.
Milica Vučković: Ich glaube, dass für einen echten kreativen Impuls zumindest eine minimale empirische Erfahrung eines Phänomens notwendig ist. Ich habe das selbst miterlebt, worüber ich geschrieben habe, aber ich habe versucht, es von etwas mir Vertrautem in etwas universell Bedeutsames umzuwandeln. Ich habe Muster bemerkt, nach denen Menschen leben, Muster manipulativer Beziehungen. Ich habe nicht nur mit der Freundin gesprochen, die ich am Ende des Buches erwähne, sondern auch mit anderen Menschen, also nicht nur mit Frauen, sondern auch mit Männern, die in solchen Beziehungen waren, sowie mit Psychotherapeuten, deren Klienten solche Beziehungen durchgemacht haben. Ich habe versucht, über ein Phänomen zu schreiben und nicht über einen einzelnen "tragischen" Fall. Ich hoffe, das ist mir gelungen.
"Auf Distanz zum eigenen Leben gehen"
APA: Wie sehr konnten Sie der Freundin damals beistehen? Und wie schwer war es, alle diese unglaublichen Mechanismen zu beschreiben, auf die Frauen offenbar immer wieder aufs Neue hereinfallen und ihr Leid damit noch verlängern?
Vučković: Es ist sehr schwierig, Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden, zu helfen. Ein wichtiger Teil einer solchen Manipulation ist die Entfremdung von nahestehenden Menschen, von der Umgebung, mit einem Wort: von Zeugen. Während meiner Arbeit an dem Buch und den fortlaufenden Gesprächen gelang es meiner Freundin, aus dieser Beziehung herauszukommen. Ich denke, sie hat es geschafft, durch das Niedergeschriebene auf Distanz zu ihrem eigenen Leben zu gehen. In diesem Sinne war das Schreiben dieses Buches für sie ebenso heilsam wie für mich. Sie hat erkannt, dass sie damit nicht allein ist, dass sie sich nicht schämen sollte. Sie hat erkannt, wie banal das alles ist. Wir haben uns über alles lustig gemacht, was sie durchgemacht hat. Das Buch hat auch schwarzen Humor. Wir haben beide immer wieder gelacht, denn die Dinge sind auch paradox und lustig. Man darf sich selbst oder das Leben nicht zu ernst nehmen, denn wenn man das tut, entstehen Probleme.
APA: Ihr Buch kommt in einer Zeit, in der Machismo überall wieder im Vormarsch ist. Lange haben wir gedacht, die Gleichberechtigung lässt halt auf sich warten, ist aber unaufhaltsam. Was hat die Trendwende verursacht?
Vučković: Das könnte unter anderem eine Folge des nicht erfolgreich geführten feministischen Kampfes sein.
"Ein Buch über Bewusstmachung"
APA: Der Roman kann als Ernüchterung, aber auch Ermutigung gelesen werden. Steckt irgendeine politische Absicht dahinter?
Vučković: "Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen" ist ein Buch über Bewusstmachung, und jede Bewusstmachung ist zumindest teilweise ein politischer Akt.
APA: In Österreich hat man, wenn man Familien betrachtet, die aus der Türkei oder dem ehemaligen Jugoslawien nach Österreich kamen, oft den Eindruck, dass sich dort traditionelle Geschlechterrollen noch stärker erhalten haben als in Österreich - Wahrheit oder Vorurteil?
Vučković: Das ist eine Frage der Klasse und nicht eine Frage der Familientraditionen. Menschen aus unseren Regionen kommen zu Ihnen, um Arbeiten zu erledigen, die die lokale Bevölkerung nicht ausübt. Sie gehören der unteren Mittelschicht oder der Unterschicht an. In diesen Gesellschaftsschichten werden traditionelle Geschlechterrollen immer noch beibehalten, während Frauen der Oberschicht, die nach Österreich und Deutschland kommen, um beispielsweise als Ärztinnen zu arbeiten, mit solchen Rollen nicht konfrontiert werden. Wo Armut herrscht, gibt es Menschen, die unterdrückt und diskriminiert werden, auch aufgrund der Geschlechterrollen.
APA: Welche Erklärung haben Sie für den großen Erfolg Ihres Buches in Serbien?
Vučković: Obwohl ich glaube, dass ich einen guten Roman geschrieben habe, ist das nicht der einzige Faktor für den Erfolg dieses Buches, sondern eine Kombination von Umständen. Das starke Engagement meines Verlags gehört dazu, wie einige andere Dinge auch. Die Me-Too-Bewegung kam - wie immer mit Verzögerung - auch zu uns, und das Buch wurde als Teil von ihr gesehen, was seine Sichtbarkeit erhöhte, es aber paradoxerweise auch nur auf diese Ebene reduzierte. Lange habe ich versucht, mich gegen eine solche Etikettierung zu wehren, denn ich denke, mein Buch ist mehr als das.
"Die politische Frage in Serbien ist komplex"
APA: Seit Monaten gibt es in Serbien große Demonstrationen gegen die herrschende Politiker-Kaste, gegen den Präsidenten und die Regierung. Sind Sie aktiver Teil dieser Protestbewegung? Haben Sie die große Demo und die Auflösung durch den angeblichen Einsatz einer Schallwaffe miterlebt?
Vučković: Diese Fragen sind sehr persönlich. Die politische Frage in Serbien ist komplex, ebenso wie es komplex ist, das Land in einer so fragilen, geopolitisch anspruchsvollen Region zu führen. Die derzeitige Regierung unternimmt manche guten Schritte, etwa in der Außenpolitik, aber es gibt auch sehr schlechte, die die Innenpolitik betreffen. Ich habe zwei kleine Kinder. Ich verfolge die Proteste online, die meisten meiner Freunde nehmen daran teil. Ja, die Sache mit der Schallkanone ist offensichtlich wirklich passiert. Bei den Protesten gab es keine Unruhen, die Leute machen das klug, weil Unruhen sie diskreditieren würden. Revolutionen sind heute nicht dasselbe wie früher, und es scheint mir, dass alles getan wird, um Unruhen zu provozieren. Wieder nichts Neues unter der Sonne!
"Das war nicht einfach ein Unfall!"
APA: Anlass der Proteste war der Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad. Was aber sind die eigentlichen Ursachen?
Vučković: Der Einsturz dieses Daches ist die tatsächliche Ursache. Vor allem Kinder und Jugendliche starben dabei. Denken Sie, dass es einen besseren Grund für Proteste geben könnte? Das war nicht einfach ein Unfall, und ich teile die allgemeine Meinung, dass dafür keine angemessene Verantwortung übernommen wurde.
APA: Was ist das konkrete Ziel der Proteste - und wie realistisch ist ihre Erreichung?
Vučković: Es gibt nicht viele Forderungen. Die wichtigste ist, die Verantwortung für dieses Ereignis zu übernehmen. Daher sind die Proteste nicht unbedingt gegen das Regime gerichtet, obwohl es klar ist, dass die vollständige Übernahme der Verantwortung zum Wechsel des Regimes oder eines Teils davon führen würde, weil die wirklich Verantwortlichen auf höchster Ebene zu suchen sind. Natürlich könnte ein Regimewechsel in Serbien auch zu größeren Problemen führen - jedenfalls nach Meinung von Leuten, die sich ernsthaft in der Politik engagieren, und an die man solche Fragen richten sollte und nicht an mich.
(Die Fragen stellte Wolfgang Huber-Lang/APA)
ZUR PERSON: Milica Vučković, geboren 1989 in Belgrad, studierte Malerei. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. "Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen" ist der erste Roman von ihr, der auf Deutsch erscheint.
(S E R V I C E - Milica Vučković: "Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen", Übersetzt aus dem Serbischen von Rebekka Zeinzinger, Zsolnay Verlag, 190 Seiten, 23,70 Euro, ISBN 978-3-552-07544-3, Buchpräsentation: Mittwoch, 9. April, 19 Uhr, Hauptbücherei Wien, Wien 7, Urban-Loritz-Platz 2a, Moderation: Rebekka Zeinzinger, Simultanübersetzung und Lesung: Mascha Dabić)
Zusammenfassung
- Milica Vučkovićs Roman 'Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen' behandelt toxische Beziehungen und basiert auf realen Erfahrungen und Gesprächen mit Betroffenen.
- Vučković beschreibt die Schwierigkeit, Menschen in manipulativen Beziehungen zu helfen, und betont die heilende Wirkung des Schreibens für sie und ihre Freundin.
- Der Roman erscheint in einer Zeit, in der Machismo weltweit zunimmt, was Vučković als Folge eines unvollständigen feministischen Kampfes sieht.
- Der Erfolg des Buches in Serbien wird durch die Me-Too-Bewegung und das Engagement des Verlags begünstigt.
- Vučković äußert sich zu den komplexen politischen Verhältnissen in Serbien und den Protesten gegen die Regierung, die durch den Einsturz eines Bahnhofsvordachs ausgelöst wurden.