"Scharia-Keller": TikTok-Gerüchte oder Salafisten-Sekte?
Im Hinterhof eines Berliner Altbaus führt ein Kellerabgang zu einer schweren, verschlossenen Türe. Durch ein vergittertes Fenster lassen sich nur die Ecken von verstaubten, alten Möbeln erkennen.
Der Keller dahinter soll der Schauplatz eines schweren Verbrechens gewesen sein. So wurde das zumindest in sozialen Medien wie TikTok oder Instagram behauptet - und auch so manch etabliertes Medium berichtete.
Konkret sollen hier zwei seit Längerem vermisste Mädchen - eines aus Innsbruck, eines aus Ludwigshafen - von einer salafistischen Sekte festgehalten werden. Von Zwangsheirat, Zwangsprostitution, Missbrauch, von Drogen und Gewalt sowie islamistischer Indoktrination war die Rede.
Die Räumlichkeiten in der Müllerstraße, im Berliner Stadtteil Wedding, wurden als "Scharia-Keller" in Österreich, Deutschland und der Schweiz bekannt und sorgten für die wildesten Spekulationen und Gerüchte.
Zwischen einer türkischen Bäckerei und einem leerstehenden Lokal führt ein Gang in den Hinterhof. Hier traf PULS 24 einen Anrainer, der den Altbau gut kennt. Er möchte lieber anonym bleiben. Wegen der Gerüchte sei die Polizei schon dreimal dagewesen, sagt er. Den Keller habe er auch der Polizei schon geöffnet. Darin zu sehen: nur Gerümpel.
Es gebe hier keinen Hinterhof-Gebetsraum oder ähnliches, versichert der Mann. Weil es schon so manchen Einbruch gab, sei der Hinterhof videoüberwacht. Hätte es hier ein Verbrechen gegeben, hätte er das gesehen.
Selbsternannte Suchtrupps
Der Hinterhof dient Anwohnern als Parkplatz, auch ein Elektriker hat hier seine Räumlichkeiten. Einen "Scharia-Keller" gebe es hier nicht, die Gerüchte kommen "wahrscheinlich von TikTok oder sowas", sagt der Mann.
Das habe auch schon dazu geführt, dass hier mehrmals Jugendgruppen mit Taschenlampen aufgetaucht seien, die den Keller selbstständig öffnen wollten. "Wir befreien jetzt die Mädchen", hätten sie gesagt. Erst nach eindringlichen Diskussionen seien sie wieder abgezogen.
Auch der Bäcker neben dem Hauseingang will von einer Sekte hier nichts mitbekommen haben. Ein "Blödsinn" seien die Gerüchte, meint er.
Handfeste Beweise gibt es tatsächlich nicht - die Behörden nehmen die Hinweise dennoch ernst. Zu tragisch ist der Hintergrund.
Die mittlerweile 16-jährige Sara aus Innsbruck wurde zuletzt im August 2022 gesichtet. Sie kam zuletzt in einem Kriseninterventionszentrum unter. Vor ihrem Verschwinden habe sich Sara "stark verändert", sagt Mutter Yasmin im Gespräch mit PULS 24. Ihre Tochter habe vor dem Verschwinden nur noch wenige soziale Kontakte gehabt, sei viel am Handy gewesen und sei nur noch verschleiert aus dem Haus gegangen. Seit über einem Jahr fehlt von ihr jede Spur.
Ähnlich ist der Fall von Nisa aus Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz). Nach der mittlerweile 17-Jährigen fahndet die Polizei Rheinland-Pfalz seit April 2022. Zuletzt hieß es, man gehe davon aus, sie sei "auf dem Weg nach Berlin".
Die Eltern der beiden jungen Frauen vermuten, dass die Fälle zusammenhängen könnten. Yasmin, die Mutter von Sara, berichtet im Gespräch mit PULS 24, dass sich auf TikTok angebliche Aussteigerinnen der Sekte gemeldet hätten.
Sie sollen unter anderem Chats vorgelegt haben, die zeigen sollen, dass Nisa und Sara in Kontakt mit Mitgliedern der Sekte waren. Auch die Adressen in Berlin, wie jene in der Müllerstraße, sollen aus diesen Quellen stammen. Die "Welt" berichtete, dass die beiden sogar gesehen worden sind.
"Viele Informationen nicht seriös"
"Es kommen viele Hinweise herein", sagt Christoph Kirchmaier, Leiter des Kriminalreferats Innsbruck zu PULS 24. Das Problem für die Polizei: Die Urheber der Informationen seien oft nicht ausforschbar oder wollen nicht mit der Polizei reden. "Für die Polizei sind viele Informationen nicht seriös", so Kirchmaier.
Fest steht für die Polizei, dass Sara vor ihrem Verschwinden gesagt habe, dass sie einen jungen Muslim heiraten wolle. Der Mann konnte allerdings nie ausgeforscht werden, auch wurde niemand gefunden, der eine solche Trauung vorgenommen hätte.
Man gehe davon aus, dass Sara zunächst "im Grundsatz aus freien Stücken" weggegangen sei, dabei aber Unterstützung - in welcher Form auch immer - hatte. Ihr Handy, ihre E-Card, ihr Konto sei seitdem nicht verwendet worden.
Danach seien Hinweise aufgetaucht, Sara sei in München. Die Hinweise verdichteten sich nicht - nun sei man im Austausch mit den Behörden in Berlin.
Mutmaßlicher Erpresser ausgeforscht
Man bemühe sich, die Hinweise von TikTok zu verifizieren, sagt Kirchmaier. Es seien aber auf der Plattform auch Personen unterwegs, die mit angeblichen Informationen und Warnungen zu dem Fall Reichweite gewinnen wollen. Eine Person habe man auch ausgeforscht, die sogar Geld für angebliche Hinweise zu Saras Aufenthaltsort erpressen wollte.
Auf TikTok befeuerte ein Prediger, der selbst Salafisten nahe steht, die Gerüchte, es würde in Berlin und auch in anderen deutschen Städten "Scharia-Keller" geben.
Die Polizei Rheinland-Pfalz, die für Nisas Fall zuständig ist, teilte auf PULS 24 Anfrage mit, dass sie "keine Erkenntnisse" zu Räumlichkeiten wie einem "Scharia-Keller" hätte, es gebe "derzeit keine Anhaltspunkte" für Zwangsheirat oder Zwangsprostitution. "Aufgrund des laufenden Ermittlungsverfahrens" wolle man derzeit nicht mehr mitteilen.
Die Berliner Polizei bestätigte gegenüber PULS 24, dass man Ermittlungen und "Anschriftsüberprüfungen" an mehreren Adressen durchgeführt habe. "Ein 'Scharia Keller' oder Ähnliches wurde nicht festgestellt", heißt es - es gebe dafür auch "keine tatsächlichen Anhaltspunkte".
Die Polizei Tirol könne "nicht ausschließen", dass Sara Opfer eines Verbrechens wurde, sagt Kirchmaier. Die Fahndung nach Sara bleibe "bis auf Widerruf" aufrecht. Sollte Saras Pass verwendet werden, würden die österreichischen Behörden eine Meldung bekommen.
"Nicht nur muslimische Eltern als Ziel"
Yasmin, Saras Mutter, gibt auch nicht auf. Sie hat sogar ein "Such-Team mit Ehrenamtlichen" gegründet, wie sie sagt. Das Team will auch schon den nächsten Hinweis gefunden haben. Sie hätten einen Tipp erhalten, der auf Mannheim hindeuten würde. Ob das stimmt oder nicht, könne sie noch nicht sagen.
Sie geht davon aus, dass die jungen Frauen immer wieder zu anderen Orten gebracht werden. Die "Scharia-Keller" könnten laut ihr auch angemietete Wohnungen sein.
Dass es Salafisten gibt, die gezielt junge Mädchen ansprechen, darüber berichtete auch schon PULS 24. Yasmin möchte andere Eltern davor warnen: "Nicht nur muslimische Mädchen" seien ihr Ziel, sagt sie.
Zusammenfassung
- Sara (16) aus Innsbruck und Nisa (17) aus Ludwigshafen werden seit über einem Jahr vermisst.
- Im Zusammenhang mit ihrem Verschwinden kamen Erzählungen über sogenannte "Scharia-Keller" auf.
- Eine Recherche über verzweifelte Eltern, die die Hoffnung nicht aufgeben - und die Abgründe der sozialen Medien.