Tochter im Chat mit "Bombenlegerin": Mutter "im Stich gelassen"
Eigentlich ist die Tochter privilegiert und in einer christlichen Familie aufgewachsen. Sie besucht eine Wiener Privatschule.
Doch plötzlich sollte die junge Frau großes Interesse am Islam zeigen - und zwar an einer sehr konservativen Auslegung. Die Mutter ist besorgt, fand nicht die Hilfe, die sie erwartet hätte und wandte sich an PULS 24. Die Geschichte, die sie erzählt, zeigt, wie schnell Beeinflussung durch falsche Freunde und soziale Medien passieren kann.
Die Eltern vermuten, dass alles wahrscheinlich mit einer Bekanntschaft aus dem Fitnessstudio begann. Dort lernte die Tochter vor etwa zwei Jahren, sie war damals 14, einen 17-jährigen Jugendlichen aus Syrien kennen. Dieser sollte den Vater nur wenig später mehrmals anrufen und fragen, ob er die Tochter heiraten dürfe.
Besorgniserregendes Video
Am Handy der Tochter tauchte dann ein Video auf, das die Tochter mit einer Freundin geteilt haben dürfte. Am Video zeigt die Minderjährige, wie sie ihr Freund gewürgt haben soll. Der Freund soll sie "erzogen" haben, sagt sie im Video, während sie auf ihren Hals deutet. Sie dürfe keine anderen Freunde neben ihm haben, soll der Freund ihr gesagt haben.
Dann kam ein Paket nach Hause. Die Mutter entdeckte darin einen Niqab - eine Verschleierung mit einem Schlitz für die Augen. Der sei für eine Freundin, die sie über TikTok kennengelernt habe, soll die Tochter behauptet haben, erzählt die Mutter im Gespräch mit PULS 24. Sie will anonym bleiben. Nachrichten, die die Mutter wenig später am Handy der Tochter entdeckte, lassen auf etwas anderes schließen.
Im Kleiderkasten der Tochter entdeckte sie weitere Niqabs und Abyas, also muslimische, lange Kleider sowie Handschuhe. Am Handy der Tochter sah sie Bilder, wo diese verschleiert vor einer Moschee in Wien posierte und verschleiert in der U-Bahn unterwegs war. Für die Eltern überraschend - die Tochter dürfte sich immer außerhalb der Wohnung umgezogen haben.
Fragwürdige WhatsApp-Gruppen
Geteilt wurden die Fotos in WhatsApp-Chatgruppen. Auch in diesen dürfte sie über TikTok gelandet sein. Da gab es einmal einen Chat mit einer ägyptischen Nummer. Der Frau schilderte die Tochter, dass sie kurz davor gewesen sei, die Schahāda, das islamische Glaubensbekenntnis, durch dessen Aussprache man Muslim:a werden kann, aufzusagen.
"Ich bin stolz auf dich", bestärkte diese die junge Wienerin. "Und wirst du es auch in der Moschee sagen?", fragte sie. "Vergiss nicht, diesen Moment mit mir zu teilen." In anderen Chats forderte die Frau, die Tochter solle ihrer Mutter nichts sagen.
Und dann ist da noch ein anderer Chat, in dem die Tochter sich aufhielt. "Akhwat fi deen" heißt die Gruppe, also "Glaubensschwestern". 31 Personen befinden sich darin - österreichische Nummern, nur von Frauen. Eine davon nennt sich "Bombenlegerin".
Im Chat tauschte man sich darüber aus, wo man heiraten könne, welcher Imam ohne Papiere traue. Hat man Fragen zum Glauben, wird man in private Chats geschickt.
Leitfaden für neue Muslime
In einem solchen erhält die Tochter einen Leitfaden für neue Muslime von einem Autor aus Saudi-Arabien. Darin ist unter anderem zu lesen, dass eine Frau die sexuellen Bedürfnisse ihres Mannes erfüllen muss und sich für ihn schön machen soll, dass Frauen das Haus nicht ohne Erlaubnis ihres Mannes verlassen dürfen und dass Frauen für Männer kochen und den Haushalt machen sollen.
Außerdem heißt es gleich im Vorwort: Der Islam sei die am schnellsten wachsende Religion, was auch an den Bemühungen der Islamischen Zentren und an "engagierten Individuen" weltweit liege, nicht-muslimische Menschen einzuladen und dabei auf "unterschiedliche moderne Technologien und Methoden setzen".
Als die Mutter der Tochter mal das Handy wegnahm, gab ihr ihr Freund ein zweites. Als sie den Burschen einmal zur Rede stellte, meinte dieser: "Sie können mir nichts antun." Die Eltern prüfen nun rechtliche Schritte gegen ihn. Gegen die Kontakte, die die Tochter auf TikTok gefunden haben soll, können sie aber nur wenig machen.
TikTok als Problemfeld
In den sozialen Medien, allen voran auf TikTok, aber auch auf Instagram, Telegram oder YouTube hat sich tatsächlich eine salafistische Parallelwelt aufgetan, die gezielt die Generation Z anspricht. 2,1 Millionen Menschen nutzen hierzulande die Kurzvideo-App TikTok zumindest monatlich und damit beinahe jede vierte Person. 68 Prozent der elf bis 17-Jährigen nutzen die Video-App, 80 Prozent davon täglich.
Gefährlich an der App: Der Algorithmus ist so getrimmt, dass er Nutzer:innen immer tiefer in eine bestimmte Richtung ziehen kann. Sieht man etwa ein Video von einem salafistischen Prediger, wird einem bald mehr ähnlicher Content angezeigt werden. Verschiedene Prediger, die nur auf den ersten Blick scheinbar harmlose Fragen beantworten, sind zu finden. Darunter etwa Abul Baraa oder Ibrahim El-Azzazi.
Sie beantworten Fragen - ob etwa Muslime beten dürfen, obwohl sie Alkohol getrunken haben oder warum Katzen im Islam als reiner gelten wie Hunde. Der Weg zum ultrakonservativen Gedankengut und in einschlägige Gruppen ist nicht weit. PULS 24 stieß bei den Recherchen schnell auf Accounts eines einschlägigen österreichischen Shops mit Kalifats-Fanartikeln.
Die Erstellung, der Konsum und die Verbreitung von salafistischen Online-Inhalten nimmt stetig weiter zu
Mitte Oktober wurde in Graz ein 14-Jähriger identifiziert, der auf TikTok zur "Zerstörung von Graz" aufgerufen haben soll. Seine Videos enthielten pro-palästinensische Inhalte.
Kürzlich waren auch der Berliner Clan-Chef Arafat Abou-Chaker und der Salafistenprediger Pierre Vogel live auf TikTok. Abou-Chaker verglich im Video Adolf Hitler mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu. Der deutsche Staatsschutz prüft das Gesagte.
Verfassungsschutz beobachtet Online-Propaganda
Auch der österreichische Verfassungsschutz (DSN) beobachtet das Phänomen. Generell sei die islamistisch-extremistische Szene in Österreich gegenwärtig von jungen Anhänger:innen geprägt, heißt es auf PULS 24 Anfrage. Die "Online-Propaganda" sei durch ihre Sprache, Trends und ihren Stil auf Jugendliche und junge Erwachsene ausgerichtet. "Die Erstellung, der Konsum und die Verbreitung von salafistischen Online-Inhalten nimmt stetig weiter zu", warnt der Verfassungsschutz.
Die Inhalte auf Deutsch, in Jugend-adäquater Sprache würden den Jugendlichen Identifikationsmöglichkeiten bieten. "Derzeit geht von Influencer-Preachern vor allem die Gefahr aus, dass die Radikalisierung von nicht gefestigten Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch in Österreich befeuert wird".
Islamistisch extremistische Akteure nutzen den Nahost-Konflikt, um online Anhängerinnen und Anhänger für ihre Ideologien zu gewinnen und zu mobilisieren
Die Prediger würden nun auch vermehrt die Situation in Israel und Palästina nutzen. "Islamistisch extremistische Akteure nutzen den Nahost-Konflikt, um online Anhängerinnen und Anhänger für ihre Ideologien zu gewinnen und zu mobilisieren", heißt es von der DSN. Man würde die Entwicklungen beobachten.
Konflikt für Salafisten "Gold wert"
Daniela Pisoiu forscht am Österreichischen Institut für Internationale Politik zu Terrorismus, Radikalisierung und Extremismus. Auch die Expertin warnt, dass der aktuelle Konflikt in Israel und Palästina für Salafisten "Gold wert" sei.
Rekrutierer können die Menschen damit leichter abholen. In einem zweiten Schritt nutzen sie das Opfernarrativ und die Zerstörungsbilder für ihre Zwecke im Rahmen von extremistischen Narrativen und Verschwörungen.
Alle Jihadisten sind Salafisten, aber nicht alle Salafisten sind Jihadisten
Generell müsse man laut Pisoiu aber unterscheiden: "Alle Jihadisten sind Salafisten, aber nicht alle Salafisten sind Jihadisten". Von einer Radikalisierung würde sie erst sprechen, wenn bestimmte Narrative dominant werden, wenn es ins Politische geht, die Demokratie abgelehnt wird.
Sollte eine Person etwa Demonstrationen nicht mehr als ausreichend betrachten und ein undifferenziertes Bild und Verschwörungen gegen "die bösen Mächte des Westens" verbreiten, sollte sich eine Person abschotten und sich nur noch mit Gleichgesinnten umgeben wollen, bestehe wirklich Gefahr.
Radikalisierung bleibt Gruppenphänomen
Aber Sorgen seien auch schon vorher angebracht: Radikalisierung sei ein Prozess und findet nicht von heute auf morgen statt, sagt Pisoiu. Außerdem sei es unwahrscheinlich, dass sich jemand alleine über die sozialen Medien radikalisiert. "Radikalisierung ist zu 99 Prozent ein Gruppenphänomen", sagt die Expertin.
Offen dschihadistische Aufrufe würde man auf TikTok kaum finden - da müsse man dann in die geschlossenen Gruppen auf Telegram schauen.
Die Mutter der heute 16-jährigen Wienerin ist wegen der aktuellen Entwicklungen sehr besorgt, wie sie zu PULS 24 sagt. Auch in der Schule sei schon aufgefallen, dass die Leistung ihrer Tochter nachlasse.
Sie habe sich schon an die Beratungsstelle Extremismus, an die Polizei und an Psycholog:innen gewandt. Dennoch fühle sie sich hilflos, da ihr niemand eine klare Handlungsanleitung geben konnte. "Es geht um die Sicherheit unserer Kinder", sagt sie. Darum habe sie aus Angst den Reisepass der Tochter verwahrt.
Zusammenfassung
- Wie können Minderjährige heiraten? Anleitungen für die Pflichten einer Frau in der Ehe, Pakete mit Niqabs und ein Chat mit einer "Bombenlegerin".
- Eine junge Frau aus Wien interessierte sich überraschend für den konservativen Islam - angeleitet durch den Freund und soziale Netzwerke.
- Die Mutter fühlt sich im Stich gelassen.
- Die Geschichte, die sie erzählt, zeigt, wie schnell Beeinflussung durch falsche Freunde und soziale Medien - allen voran auf TikTok - passieren kann.