Opferhilfe bei situativer Gewalt verbesserungswürdig
Situative Gewalt steht für Gewalt zwischen Personen, die keine nähere private Verbindung zueinander haben. Ein Blick in die Kriminalitätsstatistik zeigt, dass das weit häufiger vorkommt als allgemein angenommen. 2021 hat es bei Delikten gegen Leib und Leben in 39,5 Prozent der behördlich erfassten Fällen keinerlei Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer gegeben. Bei schwerwiegenden Straftaten gegen Leib und Leben, die mit mehr als drei Jahren Haft bedroht sind, war sogar in 58,1 Prozent der Fälle keine persönliche Beziehung vorhanden.
Während bei partnerschaftlicher Gewalt die unmittelbare Übermittlung der Daten seitens der Polizei an Gewaltschutzzentren gesetzlich verankert und insofern die Betreuung von im Regelfall von männlicher Gewalt Betroffenen gewährleistet ist, fehlt eine derartige Bestimmung bei Opfern von situativer Gewalt. "Auch diese müssen rasch und unbürokratisch über ihre Rechte in Kenntnis gesetzt werden", betonte Jesionek. Er forderte daher - angelehnt an den Rechtsschutz bei familiärer bzw. häuslicher Gewalt - vom Gesetzgeber "eine analoge Bestimmung". Konkret schlug Jesionek vor, die Exekutive sollte jedenfalls bei schwerer Gewalt auch bei "zufälligen" Verbrechensopfern mit deren Zustimmung zukünftig ihre Daten weiterleiten, um umgehend ihre professionelle Betreuung durch spezialisierte Opferschutzeinrichtungen möglich zu machen.
Allfällige datenschutzrechtliche Bedenken oder sonstige Einwände ließ Jesionek mit der launigen Bemerkung "Hört's mir auf mit der Systemwidrigkeit, mit gutem Willen ist alles machbar" nicht gelten. Gewaltopfern ein Formular mit Kontaktmöglichkeiten zu überreichen und zu glauben, diese würden damit ihre Opferrechte geltend machen, sei ein Irrglaube, meinte Jesionek: "Solche Formulare sind völlig ungeeignet. Die Opfer sind oft traumatisiert und nicht in der Lage, alle angeführten Informationen zu verarbeiten."
Walter Dillinger, Leiter des Büros für Grundsatz- und Rechtsangelegenheiten in der Landespolizeidirektion Wien, räumte ein, für Polizistinnen und Polizisten sei es "ungeheuer fordernd", von Gewalt Betroffenen ihre Rechte nahe zu bringen: "Sie müssen die Opferrechte der StPO kennen, die Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes." Wie Dillinger weiter erläuterte, eignen sich die sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen auch bei situativer Gewalt, die in der polizeilichen Praxis immer dann gegeben sei, "wenn kein Betretungs- und Annäherungsverbot verhängt werden kann".
Justizministerin Alma Zadic (Grüne) und Innenminister Gerhard Karner (ÖVP), die zum Auftakt der Veranstaltung persönlich zugegen waren, ließen, was Jesioneks Vorschläge betrifft, Gesprächsbereitschaft erkennen. Man müsse "prüfen, ob die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten ausreichen", sagte Zadic: "Wir werden einen Weg finden, auch die Opfer situativer Gewalt zu unterstützen." Datenschutz sei "ein hohes Gut, ein sensibles Gut", meinte Karner. Dessen ungeachtet gelte es, "alle Opfer besser zu betreuen", pflichtete Karner Jesionek bei.
Der Innenminister bekannte sich dazu, in Zukunft das Augenmerk verstärkt auf die Bekämpfung situativer Gewalt zu richten: "Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Gewalt durch Prävention und Sensibilisierung verhindern können, aber auch, wie es möglich ist, Opfer besser betreuen und begleiten zu können." Grundsätzlich sei in den vergangenen Jahren mit der Ausweitung der Betretungs- und Annäherungsverbote, der verpflichtenden täterorientierten Gewaltprävention, einem Waffenverbot für Gefährder, der Verdoppelung der Präventionsbediensteten von 500 auf mehr als 1.100 sowie einem Gewaltschutzbudget in Höhe von mehr als 24,6 Millionen Euro der Opferschutz verbessert worden.
Wie Tobias Körtner, Leiter der Opferhilfe beim Weißen Ring, darlegte, sind sämtliche Gesellschaftsschichten und Altersgruppen von situativer Gewalt betroffen. Die Daten von Opfern fänden oft nicht den Weg zur Opferhilfe, "da wir diese nicht verpflichtend von der Polizei erhalten, sondern nur auf Verlangen von Opfern". Darauf werde bei der polizeilichen Zeugeneinvernahme oftmals vergessen: "Viele Betroffene sind einfach froh, wenn sie diese Befragung überstanden haben."
Opfer von Straftaten, die aus rassistischen oder homophoben Motiven Gewalt erleiden, hätten es bei der Polizei mitunter schwer, berichteten Salih Seferovic vom Deradikalisierungsverein Derad und Ann-Sophie Otte, Obfrau der Hosi Wien. "Für Betroffene der LGBTIQ+-Community bedeutet eine Aussage bei der Polizei oft ein Zwangs-Outing", sagte Otte. Es gebe etliche Polizistinnen und Polizisten, mit denen die Community in dieser Hinsicht gute Erfahrungen gemacht habe, aber leider auch immer noch das Gegenteil.
Zusammenfassung
- Anlässlich des Tags der Kriminalitätsopfer hat sich ein vom Innenministerium und der Verbrechensopferhilfe Weißer Ring veranstaltetes Symposium am Dienstag dem Phänomen der situativen Gewalt gewidmet.
- Es sei "nicht wirklich einzusehen", dass in derartigen Fällen Betroffene von Gewalt oftmals nicht zu ihren Rechten kommen.
- Dessen ungeachtet gelte es, "alle Opfer besser zu betreuen", pflichtete Karner Jesionek bei.