Klimawandel frisst Alpengletscher in ungeahntem Tempo
Dringt man dieser Tage zum noch vereisten Ende des Jamtales in der Silvrettagruppe vor, wird klar, dass man sich einem Gebiet befindet, in dem sich vieles neu ordnet. So verzeichnete man in der Region Mitte August kleinräumig so massive Niederschläge, die mit jenen des Jahres 2005 vergleichbar sind, als über den Inn abfließende Wassermassen aus den Bergen sogar die Innsbrucker Altstadt bedrohten. Die aktuellen Wassermassen sorgten etwa für ein großflächiges Abrutschen eines Teils der Seitenmoräne des noch um das Jahr 1850 bis knapp vor die auf 2.165 Metern Seehöhe gelegene Jamtalhütte reichenden Gletschers.
Die Bäche, die die Bergflanken in dem Hochtal herabfließen, präsentieren sich dieser Tage deutlich eingefärbt. "Das ist nicht die übliche Farbe", erklärte die Forscherin vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Innsbruck. Hier wird viel Sediment vom Berg gewaschen. Weiter unten im Tal sind Bagger am Arbeiten, um das Flussbett nach den Massenbewegungen der vergangenen Tage möglichst zu befreien. Was dort oben passiert, kann letztlich die gesamte Kraftwerkskette beeinflussen und damit weit in die Täler wirken, so die Glaziologin.
Hat man die Bäche überwunden, die ihr Bett für die Expertin offensichtlich zuletzt mehrmals verlegt haben, gelangt man zum Gletschertor, also dem untersten Rand des Eiskörpers. Von der Markierung des Eisrandes am Ende des Sommers 2022 sind es einige Meter bis zu der zerklüfteten Linie, wo sich der Jamtalferner jetzt befindet. 37,5 Meter Längenverlust weist der Gletscherbericht des Alpenvereins von 2021 auf 2022 hier aus - der zweithöchste Wert in der Silvrettagruppe nach dem Ochsentaler Gletscher (43 Meter Verlust).
An den Kanten des Jamtalferners tropft das Schmelzwasser unaufhörlich. Klar zu sehen ist, dass der Eiskörper auch von unten ausgehöhlt wird. Der Gletscherbach präsentiert sich fast tosend - derart massiv ist der Abfluss bei fast 15 Grad Celsius Tagestemperatur.
Fischer kommt in etwa alle 14 Tage hier hinauf: "Es sieht jedes Mal anders aus." Die Forscherin und ihr Team begleitet zahlreiche Gletscher in den Ostalpen. Manchmal tue sie sich mittlerweile schwer, sie an ihrer Form zu erkennen, so rasant sind die Veränderungen. Am Jamtalgletscher - einem Referenzgletscher im "World Glacier Monitoring Service" (Welt-Gletscher-Überwachungsdienst, kurz: WGMS) - ging es zuletzt besonders schnell. "Wir verlieren hier pro Tag um die zehn Zentimeter Eis", ergab eine aktuelle Messung.
Von der Marke, wo der Eiskörper noch 1980 endete, sind es mittlerweile hunderte Meter Luftlinie zum heutigen Ursprung des Gletscherbaches. Der wird sich noch viel weiter nach oben verlegen, bis in rund zehn Jahren mehr oder weniger nichts mehr von dem einst stolzen Gletscher übrig sein wird, schätzt die Glaziologin: "Kurzfristig ist er nicht mehr zu retten. So ist der Gletscher schon jetzt ein Stück Vergangenheit. Er ist ein Schatten seiner selbst und liegt in den letzten Zügen." Einzig ein sehr großer Vulkanausbruch, der der Erde viel Abkühlung bringt, könne diese Entwicklung noch bremsen.
Dass es tatsächlich derart rasch gehen kann, wurde erst in den vergangenen Jahren deutlich. Das Ende der Gletscher, dieser für die Alpen so ikonischen Strukturen, mussten die Wissenschafter gegenüber früheren Prognosen "um mehrere Jahrzehnte" vorverlegen. Spätestens 2050 werden sie in den Ostalpen Geschichte sein.
Geschätzte sechs Prozent ihrer Fläche verloren Österreichs Gletscher alleine im Jahr 2022. Der heuer in vielen Regionen niederschlagsreichere Sommer mit späten Schneefällen verbessert die Situation kaum. Denn trotz des gefühlt schlechteren Wetters schmelzen die Gletscher sehr stark.
Fischer spricht von einem "Tropfen auf dem heißen Stein". Obwohl 2023 hierzulande etwas weniger heiß war als die Rekordjahre davor, ist es immer noch ein "extrem warmes Jahr". Das heurige gegenüber dem Vorjahr etwas reduzierte Schmelzen reiht sich trotzdem "nahtlos in die Extremjahre ein".
In den obersten Bereichen des Gletschers über 3.000 Meter Seehöhe bei den Jamspitzen und dem zwischen Tirol, Vorarlberg und der Schweiz liegenden Dreiländerspitz liegt heuer überhaupt kein Schnee. "Der Firn - Schnee der schon mehrere Jahre liegt und normalerweise innerhalb etwa drei Dekaden zu Eis verdichtet wird - ist vollkommen abgeschmolzen. Der Gletscher ist ausgedünnt", so Fischer.
Früher war er am Ende des Sommers noch zu zwei Drittel seiner Fläche mit Schnee bedeckt, im Herbst waren üblicherweise noch bis zu drei Meter des Winterschnees übrig. Heute liegen im Winter nur zwischen drei und vier Meter Schnee, der im Sommer restlos abschmilzt. Sommerschneefälle, die die Schmelze früher regelmäßig für mehrere Wochen zum Erliegen brachten, bleiben heute fast ganz aus.
Letztlich habe der Ferner unter diesen Klimabedingungen keine Chance, sich zu regenerieren. Im Gegenteil, er zerbröselt merklich, zerfällt in voneinander getrennte, weiter unten schon sehr schmutzige Eisfelder. In der Folge geht es schnell, erklärte Fischer.
Berichte über derart schmutziges Eis gebe es in der glaziologischen Literatur der 1970er und 1980er Jahre nicht. Da dominierte noch weiß und bläulich schimmerndes Eis sowie auch über weite Teile des Sommers aufliegender Schnee und Firn weiter oben.
Die gefärbte Eisoberfläche taut schneller auf, weil die dunklen Steine sich im Sonnenschein viel stärker erwärmen. Gleichzeitig nagt das abfließende Schmelzwasser von unten am Eis, dessen Zerbrechen sich an den Rändern immer wieder hörbar manifestiert. Diese rapiden Veränderungen könne man als eine Art neue Ära ansehen. Fischer: "Der großflächige Zerfall der Gletscher ist ein neues Phänomen, das wir erst seit drei bis vier Jahren so beobachten." Für eine solche "Übergangsphase" gebe es historisch keine wissenschaftlich aufgearbeiteten Präzedenzfälle.
Es müssen nun völlig neue Modelle für den Übergang in die bis auf winzige Reste eisfreien Ostalpen der nächsten Jahrzehnte entwickelt werden - auch um die folgenden Entwicklungen in den höher gelegenen Gletschern in den Westalpen oder auf anderen Gebirgsketten der Welt besser zu verstehen, auf die zeitversetzt ähnliche Abläufe zukommen.
Die Aufgabe der Wissenschaft liegt für Fischer und ihre Kollegen darin, dies datenbasiert und systematisch zu analysieren, Prognosen abzuleiten und die Rasanz des Schwundes in der Bevölkerung sachlich dazustellen. Vielen Menschen fehle es an Bewusstsein, viele täten sich schwer mit dem Gedanken, dass eine graduell ablaufende Entwicklung einen Kipppunkt überschreiten und ab dann viel schneller ablaufen kann. Momentan beschäftigt man sich etwa damit, solche Rückkopplungsmechanismen zu messen.
Dieses Kippen wird auch weiter unten in den Tälern spürbar, ist die Forscherin überzeugt. Die Sediment- und Wassermassen müssen vom Berg herunter. Die Frage ist, in welcher Geschwindigkeit das geschieht, und wie das gemanagt werden kann. Was ein Auftauen von Permafrostböden auslösen kann, wurde eben Anfang Juni unweit des Jamtalferners klar, als im Bereich der Nordwestflanke des südlichen Fluchthorns mehr als 100.000 Kubikmeter Material über das breite Wasser in Richtung Jamtalhütte donnerten.
Kommt es im Hochgebirge zu starken Niederschlägen, die auch ganz oben nicht mehr in Form von Schnee fallen, rinnt das Wasser ungebremst über das blanke Rest-Gletschereis. Zusammen mit dem vielen Schmelzwasser können hier große Wasser- und Gesteinsmassen in Bewegung kommen, die Orte bedrohen und in den Tälern Schäden anrichten.
Bis die Gletscher und viele Permafrostböden aufgetaut sind, muss sich in den kommenden Jahren der gesamte Naturraum neu ordnen. "Dazu braucht es ein besseres Prozessverständnis, das wir uns sofort aneignen müssen, weil diese Übergangsphänomene nur wenige Jahre dauern. Wir werden einen neuen Zustand mit aufkommender Vegetation haben. Hier wachsen selbst am Eis im Schutt die ersten Grasbüschel", so Fischer.
Bevor eine Almlandschaft etabliert ist, "werden wir immer wieder vor Überraschungen stehen". So ist etwa unklar, wie sich Eisreste auf Hangrutschungen auswirken können. Die Wissenschafter versuchen all das zu erforschen und zu dokumentieren. Vielfach fehlen aber auch die nötigen Personalressourcen.
Letztlich braucht es das alles, um ein Frühwarnsystem zu etablieren, das auf die neuen Bedingungen abgestimmt ist, betonte die Glaziologin. Man müsse darüber nachdenken, ob eher in kostenintensive Verbauungen investiert oder vor allem die Warnsysteme verbessert werden und der Katastrophenfonds aufgestockt wird, um aus den Mitteln Geschädigte am "Übergang in eine wärmere Welt" zu entschädigen.
Hier brauche es politische Entscheidungen in Absprache mit den Experten, erklärte Fischer. Ein Comeback für die Alpengletscher, vielleicht gegen Ende des Jahrhunderts, könne es jedenfalls nur geben, wenn jetzt echte Klimaschutzmaßnahmen umgesetzt würden.
(S E R V I C E - https://www.oeaw.ac.at/igf/home)
Zusammenfassung
- "Wir befinden uns in einem neuen klimatischen Regime", so die Glaziologin Andrea Fischer im Gespräch mit der APA am Tiroler Jamtalgletscher.
- Dass die gesamte hochalpine Landschaft um den mittlerweile eher kümmerlichen Rest des einst massiven Eiskörpers in Bewegung ist, wird vor Ort richtig spürbar.
- Heute liegen im Winter nur zwischen drei und vier Meter Schnee, der im Sommer restlos abschmilzt.