Das Kind in der Hundebox
Er wurde gefesselt, geknebelt, geschlagen und wäre fast verhungert. Immer wieder wurde ein erst 12-jähriger Bub in eine Hundebox, die nur einen halben Meter hoch und 40 Zentimeter breit ist, gesperrt. Die Box wurde an die Wand geschoben, mit Gegenständen beschwert, ein Entkommen des Buben wurde so unmöglich gemacht. Schlafen musste er in einem Hunde-Körberl – oft ohne Decke.
Das unfassbare Martyrium dauerte über Monate, hinschauen wollte offenbar niemand, auch Hilferufe wurde nicht gehört. Die eigene Mutter soll ihn über zumindest drei Monate – von September bis November 2022 – auf erschütternde Weise gequält haben. Der Bub soll davon Verletzungen davongetragen haben, verlor mehr und mehr an Gewicht, mutmaßlich, weil ihn die Mutter hungern ließ. Regelmäßig soll ihn die Frau mit Wasser übergossen haben. Das Fenster soll sie auch bei Minustemperaturen geöffnet haben.
Am 22. November 2022 war der Bub im Koma – mit einer Körpertemperatur von nur 26,8 Grad. In Lebensgefahr wurde er ins Spital gebracht.
Noch heute bekommt manch einer, der die Familie kennt, im Gespräch über das Geschehene Gänsehaut. In Waidhofen an der Thaya wünschen sich viele endlich Aufklärung. PULS 24 hat sich auf Spurensuche begeben und mit dem Umfeld der Familie gesprochen.
Warum konnten die Behörden nicht verhindern, was dem heute 13-jährigen Buben aus der Nachbarschaft angetan worden sein soll? Nur wenige Tage, bevor er ins Koma fiel, war das Jugendamt im Haus. Reichten Warnungen von Spitalspersonal und Lehrer:innen nicht aus? Waren Bürokratie und Unterbesetzung dem Kindeswohl im Wege? Und was bewegte die Mutter, die in Waidhofen aufgewachsen ist und nie auffiel, dazu, ihrem eigenen Sohn derartiges mutmaßlich anzutun?
Fassungslosigkeit
Wer sich im Umfeld der Familie umhört, stößt heute auf Fassungslosigkeit, vor allem aber auf den Wunsch, dass das, was dem heute 13-Jährigen aus Waidhofen passiert ist, keinem anderen Kind mehr passieren kann.
Aber wie konnte es eigentlich so weit kommen? Vieles deutet auf die völlige Abhängigkeit der Mutter von einer mutmaßlichen Beitragstäterin hin, die sich an der damals 32-Jährigen auch bereichert haben könnte, wie PULS 24 erfuhr.
Die Mutter sitzt seit November in Untersuchungshaft. Ermittelt wird unter anderem wegen des Verdachts auf versuchten Mord. Eine entsprechende Anklage soll im Sommer fertig werden, der Prozess könnte noch heuer stattfinden. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Aber auch die Rolle der Behörden muss untersucht werden. Sie kannten das Kind zumindest – könnten den Fall aber zu lange falsch eingeschätzt haben.
"Überfürsorgliche" Mutter
Begonnen hat alles in einer ruhigen Reihenhaussiedlung am Rande der Bezirkshauptstadt im Waldviertel. Die junge Familie fiel hier, wo viele Pensionist:innen wohnen, nie sonderlich auf, schildern Anrainer:innen im Gespräch mit PULS 24. Die Mutter habe man mit dem Kind öfter beim Spazieren gesehen. Der Vater zog nach der Trennung aus. Oft kümmerte sich der Opa, der Vater der Mutter, um das Kind. Oft wurden sie im kleinen Garten beim Fußballspielen gesehen. "Ein Bilderbuch-Opa", sagt eine Nachbarin noch heute.
Wie PULS 24 von der Familie des Buben erfuhr, soll die Mutter bis dahin sogar "überfürsorglich" gewesen sein. Er habe kaum einmal allein Hausübung machen dürfen.
Ab dem Jahr 2019, kurz vor Beginn der Corona-Zeit, sollte sich das alles ändern. Die Mutter brach mit dem eigenen Vater, wollte nicht mehr, dass dieser den Buben sieht. Am Schluss untersagte sie ihrem Ex-Mann den Kontakt zum gemeinsamen Sohn, der immer häufiger in der Schule fehlte. Der Tod ihrer Mutter könnte sie aus der Bahn geworfen haben. Sie lebte zunehmend isoliert, kapselte sich von der eigenen Familie ab. Stattdessen wurde sie in Begleitung einer bislang in der Siedlung fremden Frau gesehen.
Es könnte sich um jene Frau gehandelt haben, die seit März 2023 ebenfalls in Untersuchungshaft ist. Gegen sie wird wegen mutmaßlicher Beitragstäterschaft ermittelt. Sogar Bestimmungstäterin könnte sie sein. Auch für sie gilt die Unschuldsvermutung.
Mutmaßliche Beitragstäterin
Chats zwischen den Frauen sollen belegen, dass die 40-Jährige der Mutter Aufträge zum Quälen des Kindes gegeben haben soll. Die beiden sollen ständig in Kontakt gewesen sein. Die 40-Jährige soll sogar am Telefon gewesen sein, wenn sie mit ihren eigenen Kindern spazieren ging. Die 32-Jährige soll die Frau sogar gefragt haben, wann sie Duschen, wann sie das Haus verlassen, wann sie dem Kind etwas zu Essen geben dürfe – und wie sie es bestrafen solle.
Die Mutter soll geglaubt haben, dass in ihrem Zuhause Kameras versteckt seien und, dass die 40-Jährige mit einem – wohl nicht real existierenden - Mann in Kontakt sei, der die Befehle vermeintlich erteilt haben soll. Sie soll keine Entscheidung mehr allein getroffen haben.
Die 40-Jährige soll unter anderem zum Übergießen mit Wasser aufgefordert haben oder geschrieben haben, dass er nicht auf einer Matratze schlafen dürfe. Die Idee mit der Hundebox sollen die beiden gemeinsam entwickelt haben.
Bilder und Videos vom mutmaßlich misshandelten Sohn soll die Mutter an die Frau zurückgeschickt haben. Die Ermittler sollen Teile der Chats auf mehreren Handys gefunden haben. Ermittelt wird dabei auch gegen den Ex-Partner der 40-Jährigen, einen Polizisten. Er soll später dabei geholfen haben, Chats zu löschen. Die Frau soll aber auch vorher schon regelmäßig Nachrichten gelöscht haben.
Als "siamesische Zwillinge" werden die beiden Frauen gegenüber PULS 24 von Nachbarn auch beschrieben. Mutter und Sohn zogen kurz vor Beginn der Corona-Zeit Ende 2019 zwischenzeitlich sogar bei der Zweitverdächtigen und deren Kindern ein. Schon zu diesem Zeitpunkt habe der Bub wie ein "armes Hascherl" gewirkt. Er habe im Fahrstuhl des Wohnblocks etwa kaum vom Boden aufgeschaut, beobachteten Nachbarn.
Finanzielle Abhängigkeit
Zusätzlich soll eine finanzielle Abhängigkeit entstanden sein. Die Mutter soll der 40-Jährigen einen Teil ihres Erbes übergeben haben. Die Verdächtige soll ihr eingeredet haben, es handle sich um Falschgeld. Die Mutter soll sogar ihre Lebensversicherung aufgelöst haben, vom eigenen Vater soll sie Geld besorgt haben. Alles soll sie der 40-Jährigen gegeben haben, die Teile davon zurückgezahlt haben will.
Die 40-Jährige soll dutzende Amazon-Päckchen bestellt und über den Kauf eines Hauses nachgedacht haben, wie PULS 24 erfuhr. In ihrer Wohnung sollen Ermittler dutzende "hochpreisige Güter" gefunden haben.
Die Mutter des mutmaßlich gequälten Sohnes selbst soll unterdessen später im Internet nach "Privatkonkurs" gesucht haben. Den Sohn soll sie – auch aus Geldnot – hungern gelassen haben. Die 40-Jährige soll dann manchmal Lebensmittel für ihn gekauft haben.
Aus der Wohnung in einem heruntergekommenen Haus im Gewerbegebiet Waidhofens, in die die Mutter nach dem Verkauf des Reihenhauses zog, soll der Bub einmal vom Balkon im ersten Stock gesprungen und in einen Pizza-Imbiss gelaufen sein, um sich Essen zu kaufen. Von drei bis vier Metern Höhe sprang er dabei in den Garten – weil er in einem Busch landete, verletzte er sich nur leicht.
In einem nahen Automatengeschäft soll er Essen gehortet, in Supermärkten gestohlen haben. Die Polizei soll beim Einschreiten im Kühlschrank lediglich ein Stück Butter gefunden haben.
Wer beeinflusste wen?
Wieso befolgte die Mutter die mutmaßlichen Befehle ihrer Freundin? Von wem ging die mutmaßliche Beeinflussung wirklich aus? Inwiefern waren andere Personen eingeweiht? Fragen, die vor Gericht zu beantworten sein werden.
Die Anwältin der Mutter, Astrid Wagner, sagte in einem PULS 24 Interview, ihre Mandantin bestreite die Absicht zu Töten. Die Mutter sei überfordert gewesen, sie habe sich beeinflussen lassen. Ein psychiatrisches Gutachten sieht bei der Mutter eine psychotische Entwicklung, eine schwere Persönlichkeitsstörung mit starken sadistischen Anteilen. Aber sie sei zurechnungsfähig. Sie soll sich im Internet über mögliche Strafen bei Kindesmisshandlung und schnelles Zunehmen ohne Geld erkundigt haben.
Nur unbedachte Ratschläge?
"Die Kindesmutter hat meine Mandantin bei Problemen mit ihrem Sohn immer um Rat gefragt. Meine Mandantin hat dann teilweise unbedacht Ratschläge gegeben, die sie nicht so ernst meinte und auch nicht davon ausging, dass die Mutter diese so durchführen würde", sagt hingegen Sascha Flatz, Anwalt der Zweitverdächtigen.
Laut dem Anwalt soll die Kindesmutter gewollt haben, "dass meine Mandantin das Geld in Verwahrung nimmt weil sie nicht wollten, dass dieses auf ihrem eigenen Konto aufscheint. Der Grund war, dass ihr Konto im Minus war und sie nicht wollte, dass der Kindesvater Kenntnis von dem Geld hat und den Unterhalt kürzt".
Auch aufzuklären ist die Rolle der Behörden. Das fordern nicht nur die früheren Nachbarn der Familie, auch Grüne und NEOS haben parlamentarische Anfragen zu dem Fall eingebracht.
Den Behörden war die Familie schon länger bekannt. 2020 äußerte die Mutter Vorwürfe gegen den Vater, von denen dieser aber freigesprochen wurde. Im Zuge des Sorgerechtsstreits gab es Kontakt zu Kinderschutzzentrum und Kinder- und Jugendhilfe. Der Polizei war der Bub spätestens seit dem Sprung vom Balkon bekannt. Die Schule meldete das häufige Fehlen. Im Frühjahr 2022 erstattete ein Spital eine Gefährdungsanzeige. Tatsächlich dürfte die Mutter des Öfteren wegen Verletzungen des Sohnes in Krankenhäusern gewesen sein.
Unangekündigter Besuch wenige Tage vor dem Koma
Das Jugendamt führte laut PULS 24 Informationen Mitte November, nur wenige Tage bevor der Bub ins Koma fiel, einen unangekündigten Besuch durch. Es sollen dabei blaue Verfärbungen an den Handgelenken festgestellt worden sein, in der Wohnung sei es kalt gewesen, das Kind habe gezittert. Wie bei früheren Kontakten, wurde die Mutter aufgefordert, zu Ärzten zu gehen. Wenige Tage später sollten es eine Sozialarbeiterin in Begleitung der zweiten Verdächtigen sein, die die Rettung riefen.
Vater nicht informiert
Aus der Familie heißt es, der Vater des Kindes, der das geteilte Sorgerecht hat, sei vom Amt zu keinem Zeitpunkt informiert worden. Erst die Schule habe sich bei ihm gemeldet.
Die Behörden und die zuständige Landesrätin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) hüllten sich dazu bislang in Schweigen und verwiesen auf den Opfer- beziehungsweise Datenschutz. Ende Juni wurde angekündigt, eine Kommission einzurichten, die den Fall untersuchen soll. Am Freitag wurde diese nun präsentiert. Ein Abschlussbericht soll im Jänner 2024 vorliegen. Eine erste Prüfung habe aber ergeben, dass "alle Vorgaben eingehalten wurden", hieß es am Freitag aus dem Büro von Königsberger-Ludwig.
Mittlerweile dürfte der Junge wieder bei einem Familienmitglied leben. Auch Fußball soll er wieder spielen. Warum sein langes Leiden so lange niemandem aufgefallen ist, warum niemand früher einschritt, das wollen in Waidhofen selbst die wissen, die die Stadt am liebsten nicht mehr in den Schlagzeilen hätten.
Zusammenfassung
- Das unfassbare Martyrium eines 12-jährigen Buben, der von der eigenen Mutter gequält, geschlagen und in eine Hundebox eingesperrt worden sein soll, erschüttert bis heute das ganz Land.
- PULS 24 auf Spurensuche in Waidhofen an der Thaya mit neuen Details.