Was die Taliban mit Afghanistan vorhaben

Die Flucht aus Afghanistan ist für viele Menschen überlebenswichtig geworden, denn was die Taliban in Afghanistan vorhaben, kennt man allzu gut von ihrem ersten Terrorregime vor 20 Jahren.

Schon Tag eins der erneuten Herrschaft der Radikalislamisten lässt Grauenhaftes erwarten. Unter der Herrschaft der Taliban hat sich das Straßenbild bereits gewandelt. In Kabul werden Bilder von zu freizügigen Frauen bereits übermalt. Ein Journalist schreibt auf Twitter: "Die meisten Fernsehsender haben ihre Berichterstattung angepasst. Die meisten Sender haben ihre Moderatorinnen aus dem Programm genommen. Seit dem Morgen wurde auf den meisten Sendern keine Musik mehr gespielt. Die Talibanisierung der Medien schreitet voran".

Ein Gottesstaat soll erneut gegründet werden – mit allen Konsequenzen, vor allem für Frauen und Mädchen. Jene, die nicht flüchten konnten, leben nun in Angst und verhüllen sich bereits mit der Burka. Denn man weiß, was die Taliban von Frauen erwarten. Eine, die vor den Radikalislamisten flüchtet sagt etwa: "Ein paar junge Mädchen wurden auf der Heimfahrt von den Taliban gestoppt und ausgepeitscht, weil sie zu freizügige Sandalen getragen haben". Sie sagten ihnen: "Ihr tragt die nur, um Männer anzusprechen".

Frauenrechte: "Wahrscheinlich alles aus"

Auch die "Standard"-Journalistin und Nahost-Expertin Gudrun Harrer spricht vom "puritanischen Islam, gepaart mit paschtunischen Stammesgebräuchen". Frauen, die in den letzten 20 Jahren Karrieren gemacht hätten, würden das jetzt etwa nicht mehr machen können, so Harrer. Das sei jetzt "wahrscheinlich alles aus". Ob sich die Zivilgesellschaft wehren könne, komme auf die Grausamkeit der Taliban an. Menschen, die jetzt flüchten würden dabei fehlen, sagt die Journalistin. Fakt sei aber, dass die Taliban ihr islamisches Emirat aufbauen wollen.

In der extrem strengen Auslegung des Islams der Taliban zählen Frauen nicht. Mädchen durften unter der ersten Herrschaft nur bis zum ihrem zehnten Lebensjahr die Schule besuchen. Frauen durften das Haus ohne männliche Begleitung und Vollverschleierung nicht verlassen. Sie sind in der Gesellschaft faktisch unsichtbar. Keine Musik, keine Freiheit, Frauen werden defacto aus der Gesellschaft verbannt und müssen bei Missachtung der Regeln mit drakonischen Strafen rechnen.

Harrer zur Machtübernahme der Taliban: "Es wird die ganze Welt betreffen"

In der Stadt Herat sind zwei angebliche Diebe bereits mit geteerten Gesichtern durch die Straßen geführt worden. Auf Diebstahl steht das Abhacken der Hände. Von den Taliban heißt es offiziell, man wolle Leben, Eigentum und Ehre respektieren - alles in ihrem Sinne ausgelegt.

Wie sieht der Gottesstaat aus?

Wie die Taliban ihr Emirat gestalten wollen, sei derzeit noch Kaffeesud-Lesen, sagt Harrer. Eine schlechte Nachricht war jedenfalls, dass die Taliban eine Übergangsregierung ablehnten. Die Zeit für Verhandlungen werde noch kommen, man müsse erst die Menschen rausholen, "die mit uns kooperiert haben", sagt Harrer. 

Die Taliban selbst hatten angekündigt, anders regieren und eine Regierung "für alle" sein zu wollen. Harrer erklärt, dass die letzte Taliban-Herrschaft gescheitert sei, weil man den internationalen Terrorismus in Form der Al Kaida ins Land gelassen und andere Volksgruppen nicht eingebunden habe. Die Expertin kann sich vorstellen, dass die Taliban in diesen Punkten dieses Mal anders agieren könnten, weil sie länger an der Macht bleiben wollen als nur fünf Jahre. An ihrem Wertesystem werden sie aber festhalten. 

Wie konnte es so weit kommen?

Ohne einen Blick in die Vergangenheit sind die jüngsten Ereignisse kaum zu verstehen. Doch bei einem Blick auf diese Zeit sei "Optimismus nicht besonders" angebracht, sagt Harrer. Die Taliban-Bewegung formierte sich Mitte der 1990er-Jahre als Reaktion auf den Warlord-Terror der Mudschaheddin-Regierung, der in Afghanistan nach dem Fall des kommunistischen Regimes ab dem Jahr 1992 herrschte. Zum Gründungsmythos gehören die Entführung und Vergewaltigung zweier Mädchen durch einen afghanischen Milizenführer. Diese sollen schließlich von Männern des Taliban-Führers Mullah Omar befreit worden sein.

Am Tag nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan versuchten verzweifelte Menschen am Flughafen in Kabul noch einen Platz auf einer der Flieger zu bekommen.

1996 kamen die reaktionären Extremisten in Kabul an die Macht und schufen ihr "islamisches Emirat". Dessen Wiedererrichtung ist seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 weiterhin das Ziel der Gruppierung. Sie herrschten fünf Jahre. Die UN werfen den Taliban in dieser Zeit 15 Massaker gegen die Zivilbevölkerung vor. Erst nach den Anschlägen von 9/11 griffen die USA ein, um gegen Al Kaida vorzugehen.

Sehr, sehr schwache USA

Dass Afghanistan nun vor der Rückkehr des islamistischen Fundamentalismus steht, hat viele Gründe. Die meisten von ihnen lassen sich in Washington und Kabul finden. Das Hauptaugenmerk der Regierung Hamid Karzais, die von Washington nach dem Einmarsch in Kabul installiert wurde, lag laut Kritikern auf der persönlichen Bereicherung durch ausländische Hilfsgelder. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden allein seitens der USA mindestens 1,5 Billionen US-Dollar in das Land gesteckt. Das meiste davon versickerte im Korruptionssumpf. Dann hat schließlich 2021 der Truppenabzug begonnen, das afghanische Militär ist demoralisiert, korrupt und schlecht ausgebildet. Die Soldaten hatten keine Chance gegen die Taliban und übergaben die meisten Städte kampflos. 

US-Präsident Joe Biden verteidigte den Truppenabzug in einer Rede am Montag. Das Ziel sei immer nur gewesen, Al Kaida zu besiegen. Das sei gelungen. "Nation building", also für Demokratie zu sorgen, sei nie das Ziel gewesen, so Biden. 

Afghanistan: Militäreinsatz endet im Debakel

Genau darin sieht Nahost-Expertin Harrer aber das Problem. "Wir haben es dort wirklich verbockt", sagt sie. Denn der Westen habe die Menschen in Afghanistan glauben lassen, dass "sie uns wichtig sind". Die USA hätten sich, wie im Irak, nicht entscheiden können, was sie wollen - nur Terrorismus zu bekämpfen oder eben "nebenbei" auch für Stabilität zu sorgen.

Harrer sieht im Verhalten der USA in den vergangenen Jahren eine Mischung aus "Illusion und Selbsttäuschung". Mit dem Truppenabzug hätte man jedenfalls ein falsches Signal an die Taliban und an die Bevölkerung Afghanistans gesendet. "Die rennen ja davon", sei das Signal für die einen gewesen und "die Amerikaner werden uns nicht mehr helfen" für die anderen. Fest steht für Harrer jedenfalls, dass die USA "sehr, sehr schwach" aussehen. Auch das habe der Konflikt gezeigt. Es sei "das Ende einer Ära", in der die USA stark waren. Die USA können und wollen keine "Weltpolizei" mehr sein. 

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  • Die Flucht aus Afghanistan ist für viele Menschen überlebenswichtig geworden, denn was die Taliban in Afghanistan vorhaben, kennt man allzu gut von ihrem ersten Terrorregime vor 20 Jahren.