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UNO: Verbreitete Traumatisierung bei Ukraine-Flüchtlingen

Die Vertriebenen aus der Ukraine brauchen nicht nur Essen, Unterkunft und Arbeit, sondern auch psychologische Unterstützung. Dies betont der Generaldirektor der UNO-Migrationsbehörde IOM, António Vitorino, im APA-Interview. Die Flüchtlinge seien "ganz besonders traumatisiert, weil sie nicht nur alles zurückgelassen haben, sondern auch ihre Eltern oder Ehepartner. Wir reden von getrennten Familien". Rund ein Drittel dürfte mentale Probleme haben, schätzt der Ex-EU-Kommissar.

Der Chef der Internationalen Organisation für Migration (IOM) verweist diesbezüglich auf Erfahrungen mit früheren Flüchtlingskrisen. Die Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine unterscheide sich von anderen Flüchtlingskrisen durch den hohen Anteil an "verletzlichen" Bevölkerungsgruppen. "80 bis 90 Prozent der Menschen, die flüchten, sind Frauen, Kinder und Senioren", so Vitorino. In den meisten Fällen sei ein Familienmitglied in der Ukraine zurückgeblieben, etwa die Männer, die das Land nicht verlassen dürfen. "Wir sprechen hier von getrennten Familien."

"Neben allem anderen gibt es einen dringenden Bedarf an psychosozialer Unterstützung", forderte Vitorino, diese zur "obersten Priorität zu machen". Die IOM habe bereits Experten für psychologische Hilfe an die ukrainische Grenze geschickt und sei auch bereit, die Aufnahmeländer bei dieser Herausforderung zu unterstützen. Aufgrund ihrer Erfahrung mit Migrationskrisen in aller Welt "wissen wir, wie man das macht", betonte er. Wichtig sei auch, dass man sich um unbegleitete Kinder kümmere.

Der Portugiese hält sich zum Frühjahrstreffen der Spitzen der UNO-Organisationen in Wien auf. Er berichtete, dass die IOM mit 300 Mitarbeitern derzeit die größte UNO-Organisation in der Ukraine sei. Zwei Millionen Binnenvertriebene würden mit Hilfsgütern versorgt. Das größte Problem sei dabei die Logistik, weil viele Landesteile durch Kriegshandlungen nicht oder nur schwer erreichbar seien. Als Beispiel nannte er die Hafenstadt Odessa, wo die UNO ihr Engagement aufgrund der russischen Angriffe reduzieren musste.

Der Ukraine-Krieg habe nicht nur den weltweit größten Flüchtlingsstrom ausgelöst, sondern auch den schnellsten. Sechs Millionen Flüchtlinge in nur 72 Tagen sei mehr als im seit Jahren andauernden syrischen Bürgerkrieg. "Das ist etwas komplett Unübliches, Unerwartetes und noch nie Dagewesenes", betonte Vitorino.

Doch sei die Lage volatil. So sei eine Million Menschen wieder in die Ukraine zurückgekehrt, doch sei diese Zahl mit Vorsicht zu genießen, weil es sich dabei gerade im grenznahen Bereich auch um Pendler handeln könnte. Von den acht Millionen Binnenvertriebenen seien zwei Millionen wieder in ihre Wohnorte zurückgekehrt, insbesondere im Umfeld Kiews. Aufgrund der dortigen Zerstörungen seien sie aber weiterhin auf internationale Hilfe angewiesen.

Voll des Lobes äußerte sich der Portugiese über die Antwort der Europäischen Union auf die Flüchtlingskrise. Nicht ohne Stolz wies er darauf hin, dass die nun erstmals aktivierte Richtlinie zum Flüchtlingsschutz während seiner Amtszeit als EU-Kommissar für Justiz und Inneres im Jahr 2000 beschlossen worden war. "Das war mein Werk", sagte er schmunzelnd. "Es war genau für diese Art von Situation gedacht, nämlich den massiven Zustrom von Menschen in einem kurzen Zeitraum." In der syrischen Flüchtlingskrise im Jahr 2015 sei die Richtlinie nicht angewandt worden. "Jetzt glücklicherweise schon."

Vitorino ließ durchblicken, dass er in der Richtlinie auch eine mögliche Lösung für die jahrelange Diskussion über die Flüchtlingsverteilung innerhalb der Union sieht. Der Rechtsakt ermögliche es den Flüchtlingen, "sich nach ihrem Willen zu verteilen", während die Mitgliedsstaaten entsprechend den aufgenommenen Flüchtlingen unterstützt werden. "Es geht nicht um Verteilung, sondern um Solidarität", betonte Vitorino.

Wie viele der Flüchtlinge in der EU bleiben werden, sei unklar. Vor allem jene in den unmittelbaren Nachbarländern hätten den Wunsch, zurückzukehren. Doch das gelte auch für Ukrainer, die in entferntere EU-Staaten geflüchtet seien. "Wir können aber die Möglichkeit nicht ausschließen, dass eine bedeutende Zahl von ihnen in anderen europäischen Staaten wird bleiben wollen", so Vitorino. Deshalb sei es wichtig, schon jetzt auf Integration zu setzen, insbesondere auch auf Bildung für die Kinder.

"Sehr intensiv" arbeite die IOM auch mit der österreichischen Regierung zusammen. Man sei Österreich dankbar, dass es die EU-Richtlinie anwende, die ukrainischen Flüchtlingen Zugang zum Arbeitsmarkt, Sprachkursen und Gesundheitsversorgung biete. Eine "besondere Zusammenarbeit" gebe es auch, was die Evakuierung von Flüchtlingen aus dem besonders betroffenen Moldau betrifft. Dies sei bedeutend, weil das westliche Nachbarland der Ukraine zugleich besonders belastet, klein und wirtschaftlich schwach sei.

(Das Gespräch führte Stefan Vospernik/APA)

ribbon Zusammenfassung
  • Die Vertriebenen aus der Ukraine brauchen nicht nur Essen, Unterkunft und Arbeit, sondern auch psychologische Unterstützung.
  • Dies betont der Generaldirektor der UNO-Migrationsbehörde IOM, António Vitorino, im APA-Interview.
  • Von den acht Millionen Binnenvertriebenen seien zwei Millionen wieder in ihre Wohnorte zurückgekehrt, insbesondere im Umfeld Kiews.
  • In der syrischen Flüchtlingskrise im Jahr 2015 sei die Richtlinie nicht angewandt worden.