Spindelegger: Sprunghaft mehr Palästinenser in Griechenland
Spindelegger besuchte nach Angaben seines Sprechers Ende September ein Aufnahmezentrum auf der Ägäis-Insel Samos. Dort habe man von einem Anstieg der Flüchtlingszahlen um 400 Prozent berichtet und zu seiner Überraschung auch gesagt, "dass die meisten davon Palästinenser sind", sagte der frühere Vizekanzler und Außenminister. "Vielleicht gab es damals schon Gerüchte, dass etwas passieren würde."
Der Chef des Wiener Internationalen Zentrums für Migrationspolitik (ICMPD) äußerte sich bei einem gemeinsamen Presseauftritt mit der schwedischen Migrationsministerin Maria Malmer Stenergard. "Wir wissen es noch nicht", sagte die konservative Politikern auf die Frage nach einer möglichen Flüchtlingswelle. Zugleich betonte sie, dass etwaige Asylanträge von Palästinensern durch die unabhängige schwedische Asylbehörde behandelt werden. Ähnlich hatte sich zu Beginn der Konferenz auch Stenergards österreichische Kollegin Susanne Raab (ÖVP) geäußert. Es sei "noch nicht absehbar, welche Auswirkungen das auf die globale Migration haben wird", sagte die Integrationsministerin.
Zuvor hatte auch schon der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, auf mehr Tempo in den Verhandlungen über einen Migrationsdeal mit Ägypten gedrängt. "Nach den Ereignissen des vergangenen Wochenendes ist es noch dringender, sich mit Ägypten zu beschäftigen", sagte Schinas in einer Rede bei der vom ICMPD organisierten Konferenz. Schinas spielte damit auf die Möglichkeit von Flüchtlingsbewegungen aus dem Gazastreifen an, der an Ägypten angrenzt. Weil Israel infolge der barbarischen Attacken der im Gazastreifen herrschenden Terrororganisation Hamas eine Totalblockade des von zwei Millionen Menschen bewohnten Küstenstreifens verhängt hat, dürften Flüchtende sich in Richtung der ägyptischen Grenze orientieren.
Schinas kündigte in seiner Rede die Schaffung eines "EU-Talentepools" an, den die EU-Kommission in Kooperation mit den europäischen Arbeitgeberverbänden im November ankündigen will. Es soll sich um eine Jobvermittlungsplattform handeln, auf der sich insbesondere Bürger von wichtigen Migrationsherkunftsländern bewerben können. "Damit werden wir irreguläre Migration verringern, Lücken im Arbeitsmark schließen und Stabilität in den Herkunftsländern schaffen. Jeder wird von diesem Paket profitieren. Aber ich weiß, dass dieses Paket auf Schärfste von den Populisten angegriffen werden wird, die sagen, dass wir die Tore öffnen", sagte der griechische Politiker. "Wir tun das nicht. Wir öffnen die Tür, damit die Leute damit aufhören, durch die Fenster zu springen."
Schinas hob in seiner Rede die Erfolge in der EU-Migrationspolitik hervor. "Nicht alle Probleme sind gelöst, aber wir sind auf dem Weg dorthin - zum ersten Mal nach vielen Jahren des Misserfolgs", sagte er unter Verweis auf das jüngst von den EU-Innenministern vereinbarte Asyl- und Migrationspaket. Zugleich betonte er, dass die EU Migration mit allen verfügbaren Mitteln angehen müsse, von der Grenzsicherung bis zur Luftverkehrspolitik. Schinas kündigte diesbezüglich etwa eine Verschärfung des Straftatbestands Menschenschmuggel, eine leichtere Aufhebung der Visafreiheit bei Migrationskrisen sowie Sanktionsmöglichkeiten für Fluglinien an. Den EU-Regierungen richtete er aus, dass ein besserer Grenzschutz und die Migrationspartnerschaften mit Ländern in Afrika auch "ein Preisschild" habe und konkret zwei Milliarden Euro zusätzlich in der aktuellen Budgetperiode nötig sei.
ICMPD-Generaldirektor Spindelegger zeigte sich in seiner Begrüßungsrede selbstkritisch. "Unsere Fähigkeit, über Migration zu kommunizieren, hat keine Fortschritte gemacht", sagte er. "Das macht uns in polarisierten Debatten angreifbar", sagte der frühere Vizekanzler in offenkundiger Anspielung auf die Affäre rund um das vom ICMPD errichtete Anhaltezentrum im bosnischen Flüchtlingslager Lipa, das innenpolitisch hohe Wellen geschlagen hatte. Dabei sei die Migrationspolitik heute "in einem viel besseren Zustand als wir manchmal glauben möchten, wenn wir Nachrichten konsumieren" und die internationale Kooperation auf einem Niveau "das sich vor 30 Jahren niemand hätte vorstellen können".
Raab hob die Schaffung von "Migrationspartnerschaften" mit den Herkunftsländern als "zentral" hervor. "ICMPD ist in dieser Hinsicht als Brückenbauer ein unschätzbarer Partner", betonte sie. Als "Vorbild" in Sachen Migrationspolitik nannte sie Kanada und dessen Einwanderungsprogramme für qualifizierte Migranten. Hingegen brauche es "Jahre, wenn nicht Generationen, bis Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich sind", schilderte sie die österreichischen Erfahrungen.
Stenergard berichtete von einem "Paradigmenwechsel" seit dem Amtsantritt der von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten tolerierten Mitte-Rechts-Regierung im Vorjahr. "Schweden macht nun die Hausaufgaben, die es schon vor Jahren hätte machen sollen", sagte sie vor Journalisten. So soll die Übererfüllung von EU-Standards - etwa bei der Familienzusammenführung - gestrichen werden, und Migration in Niedriglohnbereichen durch höhere Einkommenserfordernisse unterbunden werden. Zudem solle die Entwicklungshilfe an Kooperation im Migrationsbereich geknüpft werden. Als Hinweis, dass diese Politik Wirkung zeige, sieht Stenergard den Rückgang der Asylantragszahlen um fünf Prozent. Die schwedische Ministerin zeigte sich auch zuversichtlich, dass das EU-Migrations- und Asylpaket noch vor der Europawahl beschlossen wird, schließlich wollen die EU-Abgeordneten den Wählern "etwas vorweisen". Wichtig sei aber die Umsetzung des Pakets, schließlich gebe es Länder (Ungarn und Polen, Anm.), die es ablehnen. "Wir müssen sicherstellen, dass es in diesen Ländern trotzdem umgesetzt wird. Dabei spielt die EU-Kommission eine ganz wichtige Rolle."
Optimistisch äußerte sich auch Stenergards griechischer Kollege Dimitris Kairidis. Der konservative Politiker warnte aber davor, sich auf dem Erfolg auszuruhen, weil sich auch die Migration weiter entwickle. In einer Podiumsdiskussion mit der schwedischen Migrationsministerin plädierte er dafür, die Kooperation mit der Türkei zu verstärken. Im Verhältnis zur Türkei habe es jüngst ein "Umdenken" gegeben, wobei das nicht auf alle Länder zutreffe. "Weil ich hier in Wien bin, möchte ich da nicht weiter ins Detail gehen", sagte er in Anspielung auf die österreichische Türkei-Politik. Griechenland sehe hingegen ein "Mondfenster" in den Beziehungen mit der Türkei, das es zu nützen gelte. Dabei wolle man "auch Österreich, Deutschland und Schweden an Bord" haben. "Gemeinsam können wir eine Partnerschaft schaffen, die für beide Seiten verlockender und lohnender wäre", so Kairidis, der eigenen Angaben zufolge in Wien auch seinen österreichischen Amtskollegen Gerhard Karner (ÖVP) traf.
Das 1993 vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen während der Balkankriege gegründete ICMPD unterstützt Regierungen mit Expertise und Projekten bei der Bewältigung von Migration. Insgesamt gehören 20 Staaten - darunter zahlreiche osteuropäische Staaten, Deutschland, Schweden und die Türkei - der Organisation an. Zahlreiche Minister, Staatssekretäre und Spitzenbeamte der ICMPD-Staaten, aber auch ihrer Partnerländer in Afrika und Asien nehmen an der VMC teil, die am Dienstag und Mittwoch im Palais Niederösterreich in der Wiener Innenstadt stattfindet.
Zusammenfassung
- Der Generaldirektor des Wiener Migrations-Thinktaks ICMPD, Michael Spindelegger, rechnet mit einer Flüchtlingswelle infolge der Gewalteskalation im Nahen Osten.
- "Wir wissen es noch nicht", sagte die konservative Politikern auf die Frage nach einer möglichen Flüchtlingswelle.
- Zugleich betonte sie, dass etwaige Asylanträge von Palästinensern durch die unabhängige schwedische Asylbehörde behandelt werden.